Das belgische Stadttheater NTGent bittet für seine Reihe »Histoire(s) du théâtre« Künstlerinnen und Künstler, ihre (persönliche) Geschichte des Theaters zu erzählen. Miet Warlops »One Song« war die vierte Produktion der Serie. Die frenetisch gefeierte Uraufführung des Stücks fand 2022 beim Festival d’Avignon statt. Moïra Dalant führte für das Festival ein Interview mit der europaweit gefragten Choreografin.


Sie sind die vierte Künstlerin, die sich an der Aufgabe versucht, über ihre Theatergeschichte(n) zu berichten.
Miet Warlop: NTGent hat mich mit der »Mission« betraut, meine Geschichte des Theaters zu erzählen, nach Milo Rau, Faustin Linyekula und Angélica Liddell. Es ist ein Projekt wie ein langes Gespräch, das von einem Künstler zum anderen geführt wird. Die Antworten, die jeder gibt, sind extrem unterschiedlich und persönlich. Und das führt zu einem breiten Spektrum an Pfaden, Möglichkeiten, aber auch Brüchen und Bruchstellen. Innerhalb dieser Theatergeschichten sprechen wir darüber, wie bestimmte Ereignisse, die unser persönliches Leben erschüttert haben, de facto in unsere künstlerische Arbeit einfließen. Es ist nie ganz möglich zu wissen, was während der Entstehung eines Stücks herauskommen wird. In meinem Fall geht meine Arbeit von einem visuellen Ansatz aus. Ich lege besonderen Wert auf Objekte, das Absurde, den Humor und das Lachen. Auch wenn ich hinter diesem Prozess stehe und es in bestimmten Phasen unseres Lebens schwierig ist, das Werk vom Künstler zu trennen, ist es nicht mein Ziel, rein über mich zu sprechen. Es ist offensichtlich, dass unsere Überlegungen und Wünsche während der Schaffenszeit wahrscheinlich verändert werden. Wir können nie sicher sein, was wir erschaffen, was wir davor, währenddessen und danach fühlen werden, und noch weniger, was andere dabei empfinden werden…
Mein erstes Stück »De Sportband / Afgetrainde Klanken«, das 2005 uraufgeführt wurde, ist ein Requiem für meinen Bruder. Es verbindet Sport und Musik. Sport als höchste Vollendung von Bewegung und Musik als Höhepunkt von Klängen und Geräuschen. Die Anstrengungen der Performer auf der Bühne waren eine Illustration der Existenz, der Energiewellen, die von unseren individuellen und kollektiven Atemzügen angetrieben wurden … bis zur unausweichlichen Erschöpfung. Der Schmerz und die Trauer waren so präsent, dass ich das Bedürfnis verspürte, ein Requiem zu schaffen, doch heute ist es eine friedlichere Erinnerung. Das Stück anzusehen, kann sogar Freude auslösen. In »Histoire(s) du théâtre IV: ONE SONG« erforsche ich die Idee, dass meine künstlerische Praxis zyklisch ist, dass sie ein laufender Prozess ist, eine lebendige Suche, die selbst zu einer Figur wird. Diese Welt, die ich aufgebaut habe und die noch aufgebaut wird, ist eine Figur für sich. Sie ist in der Lage, nostalgisch oder nicht nostalgisch auf vergangene Ereignisse zurückzublicken oder sogar über diese Vergangenheit zu meditieren. Ich mag es, wenn die Spuren der Vergangenheit in der Arbeit in der Gegenwart sichtbar werden. Deshalb kann die Metapher, die in »De Sportband« als Requiem für meinen Bruder verwendet wird, in ONE SONG als Palimpsest gelesen werden. Zwischen diesen beiden Momenten in meinem Leben als Künstlerin liegen meine zwanzig Jahre künstlerischer Praxis und persönlicher Erfahrungen. Sie sind natürlich in diesem Stück präsent, das sich wie die Wiederholung von Zyklen, einer bestimmten Geschichte des Theaters darstellt…
ONE SONG erzählt von einer Verwandlung durch Wiederholung …
Miet Warlop: ONE SONG ist die mehrfache Wiederholung ein und desselben Liedes. Das Stück beschwört eine lange, kreisförmige Bewegung herauf, eine Bewegung, die in allen meinen Stücken in verschiedenen Dosierungen vorhanden ist. Es ist ein metaphorisches Stück über all die Dinge, die ich feiern möchte: das Leben feiern, die künstlerische Praxis feiern, Begegnungen feiern, das Kollektiv feiern. Aber auch wenn es sich um meine Theatergeschichte handelt, möchte ich sie durch die Geschichte des Kollektivs präsentieren. Mit ONE SONG möchte ich eine Gruppe zeigen, in der niemand allein auftaucht, sondern alle Rollen gleichmäßig verteilt sind. Das ist auch einer der Gründe, warum ich nicht singe. Stattdessen positioniere ich mich innerhalb der Gruppe, fast ununterscheidbar von den anderen. Meine Arbeit der letzten Jahre erzählt von dieser kollektiven Anstrengung des Teilens. In Momenten der Freude, aber auch in schwierigeren Momenten. Durch Humor und Bildassoziation versuche ich, diese Emotionen zu materialisieren, um sie zu »abstrahieren«. ONE SONG erzählt von all dem gleichzeitig: von Wiederholung und Kreisläufen, vom Kollektivgeist, von der Vielfalt, vom Humor und von der Erschöpfung. Es ist die Übertragung von Freude, einer gemeinsamen Wärme und eines gemeinsamen Vergnügens, die im Augenblick der Anstrengung geteilt werden.
Können Sie noch einmal auf den Begriff der Anstrengung eingehen, der am Set sichtbar ist?
Miet Warlop: Obwohl das Stück eine Anordnung von Sporttribünen inszeniert, wollte ich nicht mit Sportlern arbeiten. Musiker zum Beispiel führen selbst die Virtuosität von Sportlern vor… Mich interessiert eher die Sensibilität von Menschen, die performen, als ihre Virtuosität. Ich lade sie ein, auf der Bühne neue Erfahrungen zu machen und ihre Praktiken zu verändern. Die Idee ist, gemeinsam eine echte Anstrengung zu erleben. Aber diese Anstrengung muss eher auf der Seite der Sensibilität als auf der Seite der Technik gesucht werden. So findet sich die Geigerin wie eine Turnerin auf einem Balken wieder. Sie sucht ein neues Gleichgewicht in einer Situation, die sie in ihren Gewohnheiten herausfordert. Was ich auf diese Weise zu hinterfragen versuche, ist unser tiefes Bedürfnis, uns auszudrücken und zu kommunizieren. Es ist eine Metapher: Die Ungewissheit, in der wir uns oft genug befinden, ist ein Spiel mit dem (Un-)Gleichgewicht zwischen dem Wunsch zu verstehen und dem Wunsch, verstanden zu werden.
Sie erzählen auch eine bestimmte Geschichte des Kollektivs.
Miet Warlop: Die Kulisse ist ein Sportclub, in dem eine Musikgruppe ihre Instrumente aufgebaut hat, um ein Konzert zu geben. Ähnlich wie in einem Fitnessstudio gibt es Matten auf dem Boden, eine kleine Tribüne, die die Rolle einer sozialen Skulptur spielt. Auf der einen Seite sitzt das Publikum, das seine Freude, aber auch seine Missbilligung lautstark kundtut, und auf der anderen Seite stehen die Musiker, die performen. Unter den Mitgliedern dieses kleinen Publikums befindet sich auch die Sportkommentatorin, die das Spiel/Konzert analysiert. Es gibt also mehrere Gruppen, die anwesend sind. ONE SONG erzählt die Energieübergänge von der einen zur anderen Gruppe auf verschiedene Arten. Da ist die fünfköpfige Band, die den Song kreiert, spielt und singt und dabei eine körperliche Leistung erbringt; da ist die Cheerleaderin, die ihre Energie zur Unterstützung der Bandmitglieder und der Kommentatorin anbietet, aber von niemandem im Gegenzug ermutigt wird. Sie gibt alles von sich, ohne etwas zu erhalten. Die Menschen auf den Tribünen sind Voyeure, die die Sportler/Künstler dazu bringen, ihre Grenzen manchmal bis zum Äußersten zu verschieben, ohne jemals befriedigt zu werden. Sie sind wie Puppenspieler, die diktieren, welche Anstrengungen und Risiken eingegangen werden müssen, und die sogar Momente intensiver Negativität und manischer Depressionen erleben, die manchmal gewalttätig gegen die Personen gerichtet sind, deren »Fans« sie sind. Die Kommentatorin macht sich zur Sprecherin all dessen, was wir denken, aber nicht sagen können. Die Qualen der menschlichen Begierden werden gezeigt, als wären sie einer anatomischen Sezierung unterzogen worden. Die Bühne von ONE SONG ist eine Miniaturgesellschaft, in der alle Handlungen und Wünsche, die die Prinzipien des Kollektivs bestimmen, exorziert und sogar ritualisiert werden können. Ich möchte, dass die Energie, die auf der Bühne explodiert, die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum überschreitet, und dass der exorzierende Charakter einer Geste oder einer wiederholten Emotion auf die Zuschauer projiziert und mit ihnen geteilt wird.
Dieses Konzert besteht aus einem einzigen Lied, das aus allen möglichen Blickwinkeln betrachtet wird.
Miet Warlop: Meine Antwort auf die Frage, wie ich meine Geschichte des Theaters beschreiben soll, hat ihren Ursprung in dem 2005 begonnenen Requiem. Dieses Stück ist in meiner Praxis »ewig« geworden. Ich komme immer wieder darauf zurück, kaue darauf herum und verwandle es. Die vergangene Arbeit trifft meine zukünftige Arbeit an einem Punkt, der die Gegenwart von ONE SONG ist. Der Moment, in dem ich Musik in meine visuelle Arbeit integrierte, war grundlegend. Vorher enthielten meine Werke kein Klangmaterial und auf einmal erlaubte ich mir, mit der Stille Schluss zu machen. Ich bearbeite Wörter wie eine Skulptur. Sie haben nicht nur eine horizontale Existenz, ein Wort, das von einer Figur zu einem Betrachter gesprochen wird; sie sind Teil eines Liedes und nehmen eine dritte Dimension an, die sowohl vertikal als auch kreisförmig ist. Ich arbeite mit dem Vibrierenden, dem Nachhall der Worte. ONE SONG ist also ein Wettlauf gegen die Zeit, bei dem wir ein Lied, das Maarten Van Cauwenberghe eigens für diesen Anlass komponiert hat, immer wieder wiederholen. Der Sinn und die Bedeutung wandeln sich unaufhörlich, je nach dem Rhythmus und der Energie, die wir in sie investieren. Auf der Bühne befinden wir uns im »immer wieder und wieder«, bis zu dem Punkt, an dem wir die körperliche und seelische Erschöpfung erreichen und dem Scheitern entgegengehen.
Das Prinzip ist, es immer wieder neu zu versuchen und immer wieder anders anzufangen. So wie das Leben eben ist. Da ich die Zeit habe, meine Praxis zu hinterfragen, habe ich natürlich einen persönlichen Standpunkt, aber ich berücksichtige auch die Art und Weise, wie wir miteinander verbunden sind. Ich hinterfrage »meine« Geschichte des Theaters gerne im Hinblick auf die Geschichte, die mir vorausgegangen ist. Meine Projekte sind nicht aus der Luft gegriffen, sondern Teil einer Kettenreaktion. Ich erforsche Gedanken- und Handlungsstränge, die sich gegenseitig ausbalancieren, und füge neue Bilder ein, um nicht zu erstarren. Ich würde sagen, dass ich ständig meine existentielle Einsamkeit erforsche, ich begrüße die Anwesenheit des anderen ebenso wie ich seine Abwesenheit betrauere. Und das immer gemeinsam mit den Darstellern und mit dem Publikum.
Das Gespräch führte Moïra Dalant für das Programm des Festival d’Avignon 2022.









