»Die Tür wurde geöffnet, die Maschine ist in Bewegung, es gibt kein Zurück mehr«

Die Mitglieder des Künstlerkollektivs Aurora Negra entwickeln Theater aus ihren Biografien heraus und sprechen auf der Bühne in der ersten Person, als Subjekt ihrer eigenen Geschichte. Ihre erste gemeinsame Produktion »Aurora Negra« feierte 2020 am Teatro Nacional D. Maria II. in Lissabon Premiere. Es war in der 175-jährigen Geschichte des portugiesischen Nationaltheaters die erste Aufführung eines Stücks, das von schwarzen Portugiesinnen afrikanischer Abstammung geschrieben und auf der Bühne präsentiert wurde. Darin geht es um Themen, die uns als Gesellschaft definieren – Freiheit, Gleichheit, Repräsentation, Gerechtigkeit. Cleo Diára, Isabél Zuaa und Nádia Yracema sprachen vor der Premiere über ihre Erfahrungen als schwarze Künstlerinnen im überwiegend weißen Kulturbetrieb, die gewiss auf zahlreiche Länder der Welt übertragbar sind.
– 24. Mai 2024

Das Gespräch führte Maria João Guardão am 15. August 2020 für das Programmheft der Uraufführung von »Aurora Negra« am Nationaltheater in Lissabon. Wir veröffentlichen eine gekürzte Übersetzung der portugiesischen Originalfassung.

asphalt zeigt »Aurora Negra« am 11. Juli 2024 um 19:30 Uhr im D’haus Central auf Englisch und Portugiesisch mit deutschen Übertiteln.

Isabél Zuaa: Innerhalb der Gesellschaft ist ein gesunder Austausch wichtig, aber in der Realität ist dieser Austausch seit einigen Jahrhunderten unausgeglichen. Denn wir wissen alles über unsere weißen Mitmenschen – kennen ihre Bücher, ihre Philosophen, ihre Religion –, und unsere Mitmenschen kennen uns nicht wirklich. Vielleicht kennen sie unser Essen, vielleicht kennen sie unsere Fingerabdrücke, aber sie kennen nicht unsere Schmerzen, vielleicht nicht einmal unsere Freuden. Wir stehen auf der Bühne, um zu teilen. Es braucht einen Moment des Zuhörens, um ein anderes Verständnis zu schaffen. Ich kenne weiße Künstlerinnen und Künstler, ich habe sie in Büchern kennengelernt, ich habe sie auf Bühnen kennengelernt, ich habe sie im Kino kennengelernt, und jetzt werde ich mich selbst vorstellen. Es ist nicht die Sicht anderer auf mich, es ist meine eigene Sicht auf meine eigene Erfahrung.    

Nádia Yracema: Wir nehmen uns auf der Bühne einen Moment Zeit zum Reden, ohne unterbrochen zu werden. Wenn man über Rassismus spricht und die Leute nicht zuhören wollen, sagen sie: »Aber ich bin kein Rassist!« Wir bitten das Publikum nur sich anzuhören, was wir zu sagen haben. Sie sollen es in keiner Weise als persönlichen Angriff auffassen. Aber man kann schwarze Freunde haben und rassistisch sein, man kann das Essen anderer Kulturen mögen und rassistisch sein, man kann mit Schwarzen ausgehen und rassistisch sein und den Rassismus aufrechterhalten! Das ist es ja gerade. Das liegt in unserer Erziehung begründet. Und beide Seiten müssen das dekonstruieren.  

Cleo Diára: Wir müssen ein ernsthaftes und verantwortungsvolles Gespräch darüber führen, wer wir als Gesellschaft sind, ohne uns angegriffen zu fühlen. Und anderen Menschen und der Existenz anderer Geschichten eine Chance geben, denn wenn es nur eine Geschichte gibt, bedeutet das, dass ein Teil zum Schweigen gebracht wird, wie die Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie sagt. Denn wir alle sind Teil dieser Gesellschaft, und das ist für mich der springende Punkt: Wir haben diese Möglichkeit, nicht immer am Rande der Geschichten zu stehen, die uns erzählt werden. Die erste schwarze Frau, die ich auf der Bühne gesehen habe, war Isabél 2017 in Mosambik. Ich bin früher nicht ins Theater gegangen. Aberwenn ein schwarzer Körper einen Raum besetzt, siehst du dich selbst repräsentiert, und diese Repräsentation gibt dir die Möglichkeit zu träumen.

Isabél Zuaa: Ich ging oft ins Theater und zu Ausstellungen und war die einzige schwarze Frau an diesen Orten, nicht nur auf der Bühne, sondern auch hinter der Bühne! Und ich dachte automatisch: »Dieser Ort ist nichts für mich, ich bin dort nicht willkommen.« Die meiste Zeit wurde ich sehr gut behandelt, aber es war das »Black-Only-Syndrom« in einem privilegierten Umfeld. Nádia und Cleo hatten das Glück, gemeinsam das Konservatorium zu besuchen. Aber ich, obwohl sehr geliebt und geschätzt, war die Einzige an der Escola Superior de Teatro e Cinema, und viele Dinge, die ich sagte, haben die Leute nicht verstanden. Es ist alles sehr komplex, weil man nicht dem entspricht, was die Leute von einem erwarten. Ich hatte also das Gefühl, dass ich an einem Nicht-Ort war. Heute glaube ich, dass dies ein Zwischenort der Erfahrung ist. Ich habe zwischen 2012 und 2016 in Brasilien gelebt und Performances und Fotografien zu diesen Themen gemacht. Aber nicht in Portugal, dem Land, in dem ich geboren wurde – ich weiß nicht, ob ich es als mein Heimatland bezeichnen kann. Und als ich zurückkam und erst Cleo und dann Nádia traf, wurde mir klar, was für eine Chance es war, zwei schwarze Künstlerinnen zu haben, meine Spiegel! Wir konnten über Themen sprechen, die wir kennen, weil wir die gleichen Erfahrungen haben. Und gemeinsam arbeiteten wir drei an unseren Wünschen.    

Nádia Yracema: Am Anfang wollten wir über das Thema der schwarzen arbeitenden Frauen sprechen, die es ermöglichen, dass diese Gesellschaft in gewisser Weise weiterbesteht, die putzen, die waschen, die um vier Uhr morgens aufwachen und niemand sieht, die alles machen und dann verschwinden. Und dann wurde uns klar, dass die Geschichte unserer Mütter genau die Geschichte dieser Frauen ist, die immer in der Küche, in der Fabrik, beiihrer Putzstelle gearbeitet haben. Und plötzlich sprachen wir auch über das, was uns ausmacht, und stellten fest, dass uns sehr viel verband. Ich bin jetzt Portugiesin – seit Dezember, 20 Jahre, nachdem ich hierhergekommen bin! Auch für Cléo ist es ein Kampf, die mit 10 oder 11 Jahren nach Portugal kam, und für Isabél, die hier in Estefânia geboren wurde. Es gab also sehr starke Verbindungspunkte: unsere Mütter, dieser Ort dazwischen, die Frage, wie man die Bühne betrachtet. Bevor ich studierte und Künstlerin wurde, dachte ich, dass ich in der Welt der Kunst einen Ort finden würde, an dem ich ohne Scham existieren könnte, an dem es nicht die Vorurteile über meinen Körper gäbe, die ich in der Gesellschaft spürte. Und es war ein Schock für mich zu erkennen, wie präsent diese Strukturen in der portugiesischen Kunst sind und wie elitär sie ist und wie sie immer noch Stereotypen, Konventionen und Narrative aufrechterhält, die völlig ausgrenzend und langlebig sind. Das Stipendium öffnete also eine Tür [Aurora Negra ist das Gewinnerprojekt des Amélia Rey Colaço-Stipendiums 2019].

Cleo Diára: Es ist wirklich eine Schwesternschaft, die sich gebildet hat, es geht darum, aufeinander aufzupassen. Wir können gemeinsam schreiben, gemeinsam denken, aber auch das »Single Black Woman Syndrom« überwinden, die Einsamkeit schwarzer Frauen, über die wir nicht oft sprechen, dieses Leiden, das wir mit uns herumtragen, diese Traumata. Wie kann man es verbalisieren, wie kann man Worte, Bücher, Lieder, Rituale, Heilmittel entdecken? Und diese Entdeckung ist auch ein Weg für uns. Es ist ein Weg, den wir benennen können. Und dieses Benennen ist sehr wichtig: Wir sagen etwas, das der andere leugnet, und so entsteht eine Lücke, die zu ernsthaften Meinungsverschiedenheiten führt. Dann kommt eine Zeit, in der man anfängt, sich selbst zu hinterfragen! Wie kann es sein, dass etwas, das für mich so sichtbar, so greifbar ist, nicht auf den anderen übergeht? Wie ist es möglich, dass es eine so große Lücke gibt? Das ist es also, zu erkennen, dass es das gibt und dass es konkret ist und dass es einen Namen hat: das Gefühl, dass einem ein Schauer über den Rücken läuft, das hat einen Namen. Dieses Gefühl, allein im Raum zu sein, immer, das hat einen Namen. Dieses Gefühl, dass wir uns schämen, wenn der andere einen rassistischen Witz macht –obwohl nicht wir uns schämen sollten, sondern der andere –, das hat einen Namen.

»Im Theater oder bei Ausstellungen war ich die einzige schwarze Frau, nicht nur auf der Bühne, sondern auch hinter der Bühne.«

Isabél Zuaa: Es geht vom Offensichtlichsten bis zum Subtilsten: ins Theater zu gehen und sich nicht zu sehen, in ein Geschäft zu gehen und von Sicherheitskräften beobachtet zu werden, zu einem Casting zu gehen und dort gar nicht als Bewerberin erkannt zu werden …

Cleo Diára: Manchmal bekommt man ein Drehbuch, das voller Vorurteile ist, und man muss sich überlegen, wie man der Person, die es geschrieben hat, sagt, dass es nicht richtig ist. In unserem eigenen Stück muss ich das nicht erklären. Ich muss keine Pädagogin sein oder in die Verlegenheit kommen, mich zu fragen, ob ich über das Geschriebene sprechen soll oder nicht.    

Isabél Zuaa: Denn wir können nicht einfach nur Schauspielerinnen sein. Wir sind schwarze Schauspielerinnen und deshalb … 

Nádia Yracema:  … genauso Lehrerinnen, Pädagoginnen.    

Isabél Zuaa: Wir müssen lehren, wie man behandelt wird, und wir müssen die Leute auch irgendwie dazu bringen, über die Dinge, die sie schreiben, nachzudenken, aber ohne dass sie sich beleidigt fühlen. Es ist sehr komplex, weil wir oft nicht den Mut haben zu sagen: »Seht her, ihr haltet völlig rassistische und gewalttätige Konventionen über meinen Körper aufrecht und benutzt das als Witz, und das ist mir wirklich peinlich und verletzt mich.« Und das im Jahr 2020. Das ist es, worüber wir auch in »Aurora Negra« reden.  

Cleo Diára: Es ist ein harter Kampf, aber wir haben keine große Wahl. Wir müssen kämpfen, weil wir Menschen haben, die wir lieben, und wir wollen ihnen einen besseren Ort hinterlassen. So wie sie dafür gekämpft haben, dass ich jetzt meine Privilegien habe, werde ich dafür kämpfen, dass das Leben meiner Neffen besser wird. Ich will nicht, dass sie sich umgrundlegende Dinge sorgen müssen. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.    

Nádia Yracema: Die Tür wurde geöffnet, die Maschine setzt sich in Bewegung.    

Cleo Diára: Rassistische Äußerungen werden in der Demokratie immer akzeptabler, Rassisten haben in vielen Parlamenten eine Stimme. Wie kann es sein, dass in einer Gesellschaft, die pluralistisch und vielfältig ist, Menschen immer noch der Meinung sind, dass andere Körper nicht dazugehören? Woher nehmen diese Menschen die Legitimation, dies zu tun? Man muss bei der Bildung ansetzen.    

Nádia Yracema: Beginnen wir mit all den Geschichtsbüchern, die wir den Kindern in der vierten, fünften und sechsten Klasse geben. Wir sollten den Mut haben, sie neu zu schreiben.  

Isabél Zuaa: Man kann nicht »Gold, Elfenbein, Diamanten, Gewürze und Sklaven« in denselben Satz packen. Diese Menschen sind keine Sklaven, diese Menschen wurden jahrhundertelang auf schreckliche Weise versklavt und entmenschlicht! Von anderen, die nicht aufgebrochen sind, um etwas zu entdecken, sondern um auszubeuten! Das waren keine Eroberer, das waren Vergewaltiger und Unterdrücker! Ich fing an, diese Art von Erzählungen zu entmystifizieren, die auch mein Vater aufrechterhielt – weil sie ihm eingeimpft und beigebracht wurden. Als mir das klar wurde, wählte ich einen Weg, auf dem es kein Zurück mehr gab. Es ist ein Weg ohne Wiederkehr. Und das ist auch gut so!  

Cleo Diára: Wir müssen unsere Geschichte zurückgewinnen und sie wirklich kennenlernen, damit wir inmitten von so viel Unterdrückung und Nicht-Akzeptanz unseren Stolz finden können. Wir brauchen diese Ermächtigung, und sie kommt mehr und mehr aus dem Austausch, den wir untereinander und mit allen anderen führen. Wir wissen, dass es einen Ort gibt, der uns gehört, auch wenn man versucht, ihn abzuschotten. Ich glaube, wir bauen mit Aurora Negra einen Weg zu diesem Ort.

Nádia Yracema: Unser Stück ist eine kritische Reflexion über unsere Erfahrungen, über diese Gesellschaft, über die rassistische Struktur, aber es ist kein Stück mit Lösungen. Es spricht Dinge an, beleuchtet verschiedene Aspekte, aber hat keine Antwort. Wir sind daran interessiert zu verstehen, wie Kunst das Thema Rassismus aktualisieren kann, und wir wissen, dass ein neuer Aufbruch nötig ist.    

»Wenn ein Schwarzer etwas tut, repräsentiert er die anderen Schwarzen, ein Weißer aber nicht.«

Cleo Diára: Und es geht um uns. Es geht um diesen Ort, an dem wir sind, und wie wir ein Heim bewohnen können, das oft nicht einladend ist. Und es geht auch um unsere Vorfahren, denn es gibt diese Verbindung. Wir wissen, dass andere starke Frauen uns furchtlos den Weg geebnet haben, so dass es für uns heute viel einfacher ist. Und diese Frauen sind unser Bezugspunkt, sie haben uns auch gerettet! Es gibt also auch etwas zu feiern!    

Isabél Zuaa: Der Punkt ist, dass ein Schwarzer, wenn er etwas tut, die anderen Schwarzen repräsentiert, ein Weißer aber nicht. In guten und in schlechten Zeiten. Und das ist sehr komplex. Wir repräsentieren hier niemanden, wir repräsentieren keine Nation. Dies ist ein weiteres Vorurteil über unsere Existenz und unsere Wünsche. Repräsentation ist wichtig, ja, aber ich repräsentiere mich und meine Geschichte, und jeder repräsentiert sich selbst. Und vielleicht haben wir einfachere Wünsche: das Recht zu existieren, die Freiheit, über andere Dinge zu sprechen und über unsere Vielfältigkeit.

Cleo Diára: In unserem Stück geht es nicht um Rassismus, sondern um die Erfahrungen dreier schwarzer Frauen, die Künstlerinnen sind und bestimmte Dinge erlebt haben. Unsere Erfahrungen sind vielfältig und unterschiedlich, es geht nicht nur um Schmerz, sondern auch um Glück, Feiern, Zeremonien und Rituale, es geht um den Wunsch nach ganz einfachen Dingen, menschlich und künstlerisch. Wir wollen lachen, wir wollen Spaß haben, wir wollen tanzen. Ja, wir wollen reden, aber wir sind die Protagonistinnen und die Gastgeberinnendieses Ortes, dieses Augenblicks. Das sind wir. Und wir laden alle ein uns zuzuhören.

Isabél Zuaa: An einer Stelle des Stücks heißt es: »Eine glückliche schwarze Frau ist ein revolutionärer Akt«. Wir sprechen auch über unsere Familienstruktur, die uns die Möglichkeitund das Privileg gab, zu reisen, auf Studienaustausch zu gehen, Bücher zu kaufen, Urlaub zu machen. Unsere Mütter hatten das alles nicht, aber sie haben sehr ehrlich und sehr hart gekämpft, damit wir nicht das Gleiche durchmachen müssen wie sie. Wir wollen diese Frauen loben und betonen, wie wichtig das ist, was sie uns geschenkt haben.    

Nádia Yracema: Ich habe viel über das Ankündigungsplakat von »Aurora Negra« nachgedacht: drei schwarze Frauen an der Fassade des Nationaltheaters von Portugal. Es könnte vielleicht eine Einladung an andere Körper sein, das Theater zu betreten.    

Isabél Zuaa: In meiner Nachbarschaft gibt es jetzt viele Mädchen, die Schauspielerinnen werden wollen. Und die Tatsache, dass sie mich als Referenz sehen – jemanden, der Theater studiert hat und als Künstlerin arbeitet –, ist wunderbar für mich, weil ich diese Referenz nicht in der Nähe hatte. Und jetzt werden sie dieses Plakat sehen! Die letzte Szene in unserem Stück handelt von der Einfachheit und Würde dieses Traums.

Cleo Diára: Wir haben immer gesagt, dass wir die schwarze Frau mit allem, was sie hat, feiern wollen, und das ist es, was ich versuchen werde. Wir feiern unsere Mütter, die so viel dafür getan haben, dass wir freier sind, als sie es waren.    

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