»Eine Frage von Sprache und Respekt«

Dr. Bastian Fleermann, Leiter der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf, über die Relevanz des Majdanek-Prozesses für die Stadt. Aufgezeichnet von Christof Seeger-Zurmühlen.
– 25
. Mai 2021

 

»Der Prozess lief in einer Art und Weise ab, wie wir sie uns heute nicht mehr vorstellen können.«

»Inwieweit das Bewusstsein über den Majdanek-Prozess in der Düsseldorfer Stadtbevölkerung heute vorhanden ist, ist eine Generationenfrage. Ich glaube, dass Menschen, die in den 70er-Jahren schon als halbwegs Erwachsene in Düsseldorf gelebt haben, sich grob an den Majdanek-Prozess erinnern. Und ferner glaube ich, dass eine jüngere Generation, die das nicht vermittelt bekommen hat, darüber nichts weiß.

Es gibt eine ganze Reihe von Prozessen, die sehr unbekannt sind. Was wir in der breiten Öffentlichkeit kennen, sind meist nur die Auschwitzprozesse ab 1963 und 1965 in Frankfurt. Aber Majdanek III – also das Düsseldorfer Majdanek-Verfahren – muss man zu den wirklich großen, wichtigen Prozessen in der bundesrepublikanischen Justiz zählen.

Das Lager Majdanek wird häufig auch ›Lager Lublin-Majdanek‹ oder nur ›Lublin‹ genannt. Es war zunächst einmal ein Kriegsgefangenenlager. Aber sehr schnell wurde deutlich, dass hier die Häftlingsgesellschaft sehr bunt zusammengesetzt war. Ab Frühjahr 1942 entstanden im Generalgouvernement drei Vernichtungsstätten – Belzec, Sobibor und Treblinka. Das waren die Lager der sogenannten ›Aktion Reinhardt‹, die der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in diesem Generalgouvernement dienten. Das Interessante ist, dass Majdanek in dieses System nicht integriert wurde. Denn in Majdanek waren immer auch massenhaft nichtjüdische Polen untergebracht, politische Gegner oder solche, die man dafür hielt. Es waren auch sowjetische Kriegsgefangene dort. Es waren Juden dort, aber in den klaren Kontext der ›Aktion Reinhardt‹ lässt sich Majdanek nicht integrieren. Aber: Der große Schlussakt dieses Verbrechenskomplexes ist ein Verbrechen, das eben zu großen Teilen genau in Majdanek stattfand. Das heißt, dass Majdanek in den letzten Tagen dieses Mordprogramms eben doch in den Kontext gezogen wurde, indem bei der zynisch genannten ›Aktion Erntefest‹ 43.000 jüdische Menschen im Großraum Lublin erschossen wurden.

Wir wissen bis heute nicht genau, wie viele Menschen in Majdanek insgesamt zu Tode gekommen bzw. ermordet worden sind. Nach Angaben des heutigen Leiters der Gedenkstätte Majdanek-Lublin, Tomasz Kranz, sind 78.000 Opfer gesichert überliefert.

Sehr früh, nämlich schon in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre, hat sich die polnische Justiz mit den Verbrechen in Majdanek befasst und diese aufgearbeitet. Majdanek I und Majdanek II in Lublin waren Schauprozesse, in denen die SS-Verbrecher abgeurteilt und viele von ihnen erhängt wurden.

Ein Prozess mit 15 Jahren Vorbereitungszeit

Ende November 1975 begann hier in Düsseldorf, im Schwurgerichtssaal des damaligen Landgerichts, der große Prozess ›Majdanek III – Verfahren gegen Hackmann und andere‹. Dieser Prozess begann nicht im luftleeren Raum. Man fing de facto 1960 an, das heißt, es gab eine 15-jährige Vorbereitungsphase vor der Einleitung des Verfahrens. Es wurde recherchiert, es wurden Gutachten eingeholt und es wurden Verdächtige und Zeugen durch die Staatsanwaltschaft Köln vernommen. Es würde ein Mammut-Prozess werden, das war allen Beteiligten klar. Und dass es am Ende der längste Prozess in der Geschichte der Bundesrepublik wurde, mögen manche schon damals geahnt haben.

Der Prozess lief in einer Weise ab, wie wir uns das heute nicht mehr vorstellen können. Es saßen Alt-Nazis im Publikum, die lautstark ihre Solidarität mit den Angeklagten kundgaben. Es gab immer wieder Eklats, Unterbrechungen. Man muss sich vorstellen, dass über 350 Zeugen aus der ganzen Welt nach Düsseldorf eingeladen wurden. Und dass traumatisierte Überlebende, die ihre sämtlichen Familienangehörigen in Majdanek verloren hatten und selbst dort Häftlinge waren, nun angepöbelt wurden von völlig rücksichtslosen Verteidigern. Der größte Skandal allerdings war das, was am Ende herauskam. Die Urteile wurden allgemein als zu milde, zu lasch angesehen. Sie wurden massiv kritisiert in In- und Ausland und von der Presse. Das ernüchternde, ziemlich softe Ergebnis hat man als Skandal empfunden. Das ist es, was wir heute dem Majdanek-Verfahren in Düsseldorf negativ anlasten. Aber wir haben auch die Pflicht, das ist jedenfalls meine Überzeugung, diesem Verfahren in einem Punkt ein gutes Zeugnis auszustellen. Es stellt doch, wie mir scheint, eine extrem gründliche Aufarbeitung des Verbrechenskomplexes dar. Dieser Prozess hat die Aufarbeitung der Verbrechen in Majdanek enorm vorangebracht. Und er hat auch in Düsseldorf viel bewegt.

Warum der Majdanek-Prozess in Düsseldorf stattgefunden hat, ist nur mit einer relativen Banalität zu beantworten. Es gab keine Düsseldorf-Bezüge, jedenfalls keine nennenswerten. Man suchte sich Düsseldorf aus aufgrund der Erfahrung mit dem Treblinka-Prozess von 1965, gegen den Düsseldorfer Kurt Franz und andere. Man darf nicht vergessen, dass der Majdanek-Prozess nicht im Oktober 1975 vorbereitet wurde und im November begonnen hat, sondern man hatte quasi schon während des Treblinka-Verfahrens intensiv am Majdanek-Verfahren gearbeitet. Und das alles hat dann wohl dazu geführt, dass man nach Düsseldorf gegangen ist.

In den Familien wurde noch eisern geschwiegen

Der Majdanek-Prozess wurde fast durchgängig von Protesten begleitet. Viele Zeitzeugen sagen, dass für sie und ihre Familien 1979 die Ausstrahlung der TV-Serie ›Holocaust‹ im WDR ein Schlüsselerlebnis war. Aber Majdanek war zu großen Teilen vor 1979. Das heißt, dass in den Familien zu dieser Zeit noch eisern geschwiegen wurde. Und dieser weltweit beachtete Prozess brachte das Thema Holocaust auf das tagesaktuelle Tableau und die Menschen stellten dann natürlich Fragen. Es gab Proteste von kirchlichen, von gewerkschaftlichen Gruppen, vonseiten der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Es gab Proteste vonseiten der DKP und auch von der ›Post-68er-Generation‹. Es gab Proteste durch die jüdischen Gemeinden. Es gab Proteste, die zum Teil sehr kreativ waren, die mit Mahnwachen hier aufwarteten. Die Mühlenstraße wurde, illegaler Weise, in Majdanekstraße umbenannt.

Günter Bogen, der Vorsitzende Richter, hat Düsseldorfer Jugendliche eingeladen, im hinteren Drittel des Schwurgerichtssaals Platz zu nehmen, um sich den Prozess anzuhören. Auch dafür ist er hart kritisiert worden. Aber er hat das durchgezogen. Und als diese jungen Leute am Abend das Gerichtsgebäude verlassen haben und nach Hause gingen, wussten sie alles über Majdanek, in allen Details. Aber sie wussten nichts über ihre eigene Heimatstadt Düsseldorf und entwickelten den Wunsch, eine lebendige Gedenkstätte in Düsseldorf zu haben. Sie sind zur etablierten Politik gegangen und haben gesagt: Wir fordern eine Gedenkstätte. Die Politik stimmte zu, jedoch gab es da ein Missverständnis, ein Missverständnis der Generationen. Denn eine ›Gedenkstätte‹ war bis dahin eine Tafel, eine Bronze oder eine Figur gewesen. Aber die Generation, der jungen Studierenden, Azubis und Schüler in den 70er- und 80er-Jahren wollte ein solches statisches Verständnis davon, was eine Gedenkstätte zu sein hat, nicht mittragen. Dieses Missverständnis löste sich dann auf, indem diese Jugendlichen sagten: Wir möchten einen aktiven Lernort. Mit wissenschaftlich qualifiziertem Personal und einer Bildungsabteilung, die pädagogisch historisches Lernen ermöglicht. Wir wollen einen Ort, an dem Dauer- und Wechsel- oder Sonderausstellungen stattfinden können. Einen Raum, in dem wir diskutieren können, in dem Begegnungen stattfinden können. Wo man Filme schauen kann, wo man sich auseinandersetzen kann. Aktiv.

Im September 1987 ist unsere Mahn- und Gedenkstätte eröffnet worden und ich möchte behaupten, dass es diesen Impuls ohne den Majdanek-Prozess hier auf der Straße so nicht gegeben hätte. Ich bin davon überzeugt, dass der Majdanek-Prozess der Impuls war, der Düsseldorf quasi dazu gezwungen hat, sich eben nicht nur mit Majdanek oder Auschwitz oder Treblinka, sondern vor allem mit Düsseldorf, mit der Geschichte und Vergangenheit der eigenen Stadt auseinanderzusetzen. Und das war so gesehen auch der Impuls, um eine städtische zentrale Mahn- und Gedenkstätte zu etablieren. Insofern sind das alte Gerichtsgebäude und auch unsere Gedenkstätte miteinander verwoben und verschränkt. Deswegen ist der Prozess, die Erinnerung an den Prozess und die Aufarbeitung für uns auch ein entscheidender Punkt unserer eigenen Instituts-Seele oder Identität.

Ich glaube, dass das vielen Leuten nicht klar ist, dass dieses Institut aus dem Prozess resultiert. Ein Nebenprodukt, aber immerhin. Und ich glaube, dass man auch das nochmal klarmachen kann in der Öffentlichkeit: Dass Majdanek III bei allen Eklats und milden Urteilen auch diese positiven Nebeneffekte hatte und dass wir heute – Jahrzehnte nach dem Prozess – viel mehr über Majdanek wissen als zuvor.

Natürlich ist unsere Arbeit heute nicht mehr mit der in den 80er-Jahren vergleichbar, weil sich das Haus enorm weiterentwickelt. Aber in diesem Haus gibt es Grundprinzipien, die genau in dieser Zeit, Mitte der 80er-Jahre, hier definiert wurden und die wir so weiterverfolgen. Relativ stur. Wir sind kein Schweige-Mausoleum, sondern ein aktiver Ort, an dem Stadtgeschichte diskutiert wird. Wir bieten Bildungsarbeit und Forschung zugleich an, das sind Konstanten, die wir hier nie verlassen haben. Übrigens auch fest verankert ist die Grundüberzeugung, dass dieses Haus niemals eine Holocaust-Gedenkstätte war und auch kein jüdisches Museum, sondern wir immer allen Opfergruppen gleichermaßen gewidmet waren und sind. Wir haben in der Dauerausstellung immer den Anspruch, alle verfolgten Gruppen im Blick zu haben. Auch die kleinen, auch die marginalisierten Opfergruppen wie beispielsweise die Zeugen Jehovas oder schwule Männer. Wir wählen einen sehr stark biografischen Ansatz. Wir gehen sehr konkret in die Geschichte hinein. Wir wollen nicht abstrakt sein. Wir wollen auf Düsseldorf begrenzt sein, um schärfer und genauer hinzugucken.

Im Juni 2021 erinnerten wir nun gemeinsam mit dem asphalt Festival an den Majdanek-Prozess. Auf künstlerische Weise, auf dokumentarischem Weg, durch eine gemeinsame Haltung. Wir erinnerten an die Protestkultur und im weitesten Sinne erinnerten wir auch an die Opfer von Majdanek.

Wenn man spezifischer hinguckt, würde ich folgendes sagen: Die Aneinanderreihung von Eklats und unschönen Szenen im Gerichtssaal damals hatte ganz viel mit Sprache zu tun. Im Majdanek-Prozess hat sich ein Tonfall Bahn gebrochen, der sehr aufgeregt und aggressiv war. Wie man mit Zeitzeugen, mit Augenzeugen, mit Überlebenden umgegangen ist, ist eine Frage von Sprache und von Respekt. Das sind eigentlich die beiden Schlüsselbegriffe. Wenn wir uns nochmal diesen sehr speziellen Aspekt des Verfahrens anschauen, diese Gesamtstimmung, diese Atmosphäre, die durch Sprache konstituiert wird, dann können wir heute daraus lernen: Sprache ist immer auch ein ganz wichtiges Instrument, um Unrecht zu tun oder um Gewalt anzutun.«

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Dr. Bastian Fleermann (*1978) ist promovierter Historiker. Er wurde in Ratingen geboren und hat in Bonn Geschichte, Volkskunde und Rheinische Landeskunde studiert. Seit 2011 leitet er die Mahn- und Gedenkstätte der Stadt Düsseldorf auf der Mühlenstraße 29.
Die Inszenierung ›IM PROCESS‹ des Theaterkollektivs Pièrre.Vers über den Majdanek-Prozess feierte am 30.06.2021 im Rahmen des asphalt Festivals ihre Uraufführung in der Berger Kirche in der Altstadt.

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