Tourette auf der Bühne

Von einer Begegnung zum Stück: ›Chinchilla Arschloch, waswas‹.
Mit Tourette Theater machen? Auf den ersten Blick scheint das unmöglich, schließlich ist kein Text sicher und keine Bewegung wiederholbar. Doch ›Chinchilla Arschloch, waswas‹ beweist eindrucksvoll das Gegenteil und holt drei Menschen mit Tourette-Syndrom auf die Bühne. Deren Tics sind nicht steuerbar, Schimpftiraden und motorische Ausbrüche gehören zu ihrem Alltag. Gemeinsam mit der Musikerin Barbara Morgenstern unterziehen die drei Protagonisten das Theater einem Stresstest: Wie viel Absichtslosigkeit hält es aus? Regisseurin Helgard Haug von Rimini Protokoll hat Christof Seeger-Zurmühlen erzählt, wie das Stück entstanden ist und warum keine Vorstellung der anderen gleicht.
– 23. Juni 2021

Chinchilla Arschloch, waswas ist zu Gast beim asphalt Festival am 8. und 9. Juli 2021 im Central am Hauptbahnhof.

Helgard Haug  Foto Hanna Lippmann

Christof Seeger-Zurmühlen: Tourette und Theater – das ist nicht gerade eine naheliegende Kombination. Wie kam es zu diesem Stück? Stand das Thema Tourette am Anfang oder gab es eine Begegnung, die euch inspiriert hat?

Helgard Haug: In dem Fall war es eine Begegnung. Ich habe Christian Hempel kennengelernt bei Recherchen für ein anderes Stück, ›brain projects‹, bei dem wir uns mit dem Gehirn auseinander gesetzt haben. Schon bei der ersten Begegnung hat mich seine unglaublich reflektierte Art beeindruckt, über Tourette zu sprechen. Auch das Selbstbewusstsein, was da aufleuchtet. Lange war er mit der Formel »Ich ticke, deshalb bin ich« unterwegs. Er hat starke vokale Tics. Oberflächlich könnte man sagen, das sind die Menschen, die so Fäkalien rufen oder irgendwie schimpfen. Das ist bei ihm auch so, wobei er da wahnsinnig kreativ ist. Er hat aber auch starke motorische Ticks. Dadurch ist er immer exponiert und muss sich ständig erklären. Und das führte dazu, dass er sich in den letzten Jahren sehr zurückgezogen hat. Und das fand ich spannend im Zusammenhang mit Theater und der Frage von Präsenz, wie man sich gegenseitig aushält und wie kalkulierbar man ist.

Auf meine Frage, ob er sich vorstellen könne bei dem Stück mitzumachen, gab Christian eine kategorische Antwort: »Nein, auf keinen Fall!« Er ist dann aber doch einmal zu einer Probe nach Hamburg gekommen. Das war wahnsinnig aufregend. Es galt zu vermeiden, dass er die Wegstrecke zwischen Parkhaus und Theater, das sich direkt am Hauptbahnhof befindet, zu Fuß zurücklegt: Strich mit Drogenszene und Obdachlosen … – sein Tourette reflektiert das, was es sieht, es nimmt es auf, thematisiert, verdreht, kommentiert es lautstark. Es darf nicht als wertender Kommentar verstanden werden, aber es findet sehr schnell heraus, was nicht geht, was eigentlich nicht gesagt werden darf – die Tabus. Und das wird dann ganz laut herausgeschrien. Und in manchen Situationen bleibt dann auch keine Zeit mehr für Erläuterungen – deshalb liegt in jeder Begegnung auch die Gefahr eines Missverständnisses.

Ich habe ihn dann gefragt, ob wir nicht mal eine Reise durch Deutschland machen können. Also was macht das Tourette, wenn man bei einer Kirche, auf einer Autobahnraststätte, auf einer Wahlkampfveranstaltung, am Meer ist? Was passiert da? Diese Idee bekam den Arbeitstitel ›Deutschlandreise‹. Ich dachte: Lass Tourette mal Deutschland kommentieren. Und das haben wir gemacht. Wir sind nach Berlin gereist und haben dort auch den Politiker Bijan Kaffenberger getroffen, der ja auch mitspielt, und der sich in die gegenteilige Richtung bewegt hat. Er stellt sich in den Mittelpunkt und sagt ganz stark: Ich bin in der Öffentlichkeit und Tourette zeichnet mich auch aus, macht mich einmalig, er dreht den Spieß also um. Aus dieser Fahrt und den Begegnungen und Erlebnissen ist ein Hörspiel geworden. Es hat mich fasziniert, wie kreativ Tourette sein kann, wie wortwitzig und humorvoll.

Und nach den sehr positiven Erlebnissen der Hörspielarbeit – bei der wir ja auch ausgelotet haben, wie Christian dargestellt wird – hat er sich dann doch auf das Experiment eines Auftritts auf dem Theater eingelassen. »Vielleicht sind es auch nur fünf Minuten«, haben wir zur Beruhigung immer wieder gesagt. Und so haben wir uns da Stück für Stück gemeinsam vorgewagt.

Dann habe ich Bijan noch dazu geladen – der anfangs nicht wusste, ob er sich wirklich die benötigte Zeit nehmen kann. Und in Frankfurt haben wir Benjamin Jürgens kennengelernt. Er leitet eine Selbsthilfegruppe, hat noch mal eine ganz andere Form von Tourette und einen anderen Umgang damit. So entstand der Gedanke, mit diesen drei Männern an drei Modulen zu arbeiten und das möglichst alles immer offenzuhalten, so dass wir das Stück auch spielen können, wenn mal einer nicht mag oder kann oder die Tics einfach zu stark sind.

Es war klar, dass Barbara Morgenstern die Musik macht. Und dann wurde auch immer klarer, dass sie auch als Performerin auftritt, dass sie auch diejenige sein könnte, die auf der Bühne reagieren kann, wenn was ist. Und dass man Spielregeln erfindet, die einem ermöglichen, diese Offenheit zu behalten.

Sowohl die Offerte an Christian als auch den ersten Korb als auch die Entscheidung, dann doch zu spielen, erzählen wir auch in dem Stück. Weil es eben so stark darum geht zu sagen: Was braucht es eigentlich bis zu dem Moment, wenn Christian mit seinem Bus auf die Bühne fährt oder mit einem Fahrrad oder wie auch immer die Gegebenheiten sind? Wie lang ist eigentlich der Weg dorthin? Und wie selbstverständlich machen wir die Tür auf und stehen auf einer Bühne? Und was muss eigentlich bedacht werden, damit Christian das überhaupt kann? Also ohne, dass er sich verletzt oder andere verletzt oder was kaputt geht oder Irritationen entstehen oder sozusagen mentale Verletzungen entstehen?

Christof Seeger-Zurmühlen: Ist es jedes Mal eine anderer Abend?

Helgard Haug: Ja, aber weniger radikal, als ich das anfangs dachte. Es gab so viele Überlegungen und Vorbereitungen, wie man damit umgeht. Und letztendlich wurde im Probenprozess klar, dass Festlegungen wichtig sind: Je fester und klarer die Struktur ist, desto besser konnten die Protagonisten damit bei den Proben umgehen. Und ab einem bestimmten Punkt wurde das sehr stark eingefordert. Die Wiederholbarkeit war dann sozusagen leichter als das Offene. Zu improvisieren oder mal etwas auszuprobieren, das ist mit ganz vielen Ängsten belegt. Und trotzdem – dazwischen schwingt natürlich dieses Tourette, das macht, was es will. Also ja: Jeder Abend ist anders. Es ist ein Stück, bei dem wirklich jeder Abend einen eigenen Charakter hat.

Christof Seeger-Zurmühlen: Wie lang hat der Prozess gedauert, bis dann wirklich ein Stück dabei heraus kam?

Helgard Haug: Von der ersten Begegnung bis zur Uraufführung: zwei Jahre. Aber die Proben waren mit drei Wochen recht kurz.

Christof Seeger-Zurmühlen: Und stellen sich die Spieler inzwischen immer noch die Frage: »Ich weiß noch nicht, ob ich es heute tue?«

Helgard Haug: Nee, jetzt wollen natürlich alle auf die Bühne! Also das ist ja das Berauschende am Theater, dass es alles möglich macht. Die große Erkenntnis ist ja: Es geht! Ich glaube, die spielen das wahnsinnig gerne, und es macht Spaß. Die Arbeit war auch extrem heiter. Es gab so viele witzige Momente und eine große Leichtigkeit beim Entwickeln des Stücks. Da haben wir alle ganz viel von mitgenommen.

Christof Seeger-Zurmühlen: Der Humor ist die große Qualität der Inszenierung. Das ist wunderschön. Ich habe den Eindruck, dass im Erzählen auch eine gewisse Erleichterung entsteht. Welche Erfahrungen habt ihr mit dem Publikum gemacht?

Helgard Haug: Also die Ausgangslage des Stücks ist ja vorher kommuniziert, aber dennoch spürt man zu anfangs auch die Anspannung und Unsicherheit des Publikums: In welchem Verhältnis stehen wir hier? Darf ich lachen? Und dann, irgendwann, wird ein Pakt geschlossen, und von da an schwingt sich das wirklich frei, denn die Spielregeln sind geklärt. Und dann kann man natürlich auch alle Akkorde bespielen.

Christof Seeger-Zurmühlen: Hat sich auch an der Zusammensetzung des Publikums etwas verschoben? Entsteht durch das Stück ein Empowerment für andere Menschen, die Tourette haben?

Helgard Haug: Es ist eine offene Einladung. Wir versuchen vorher immer Kontakt aufzunehmen mit Gruppen vor Ort. Es ist auch so, dass die Überlegung, wie man jemandem mit Tourette ermöglicht auf die Bühne zu kommen, sich fortspinnt in der Frage, wie man jemandem mit Tourette oder mit anderen Zwangskrankheiten ermöglicht im Publikum zu sein. Muss man vielleicht dieses genormte Sitzen überdenken, muss man andere Sitzmöglichkeiten anbieten? Wir haben uns da ein bisschen orientiert an Relaxed-Performances-Regeln und das auch angeboten. In Frankfurt gab es Aufführungen, in denen bestimmt sechs oder sieben Leute mit Tourette waren. Benjamin tict ganz viele Tierlaute, also er pfeift und miaut zum Beispiel. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sich das Theater in einen Wald verwandelt hat, weil die Tourette-Besucher die Tics erwidert haben. Ein wirklich schönes Konzert! Man ist das ja anders gewohnt, und ich finde diesen totalen Fokus und diese gebündelte Konzentration im Theater auch wirklich toll. Aber in dem Stück ist das anders. Es fängt an zu wuchern und macht eben nicht halt vor dem Zuschauerraum.

Christof Seeger-Zurmühlen: Die Frage ist natürlich, wie inklusiv denkt oder ist unsere Gesellschaft?

Helgard Haug: Je mehr du weißt, je mehr Erfahrungen du sammelst mit Menschen, die die Norm brechen: umso besser. Wenn wir uns außerhalb der Schutzräume befinden, sagt Christian meist: »Keine Absicht, ist Tourette!« Das ist super. Christian macht sich diese Mühe, aber es ist für ihn tatsächlich auch eine Mühe. Es nervt, sich ständig erklären zu müssen, klar, aber ich finde, es lohnt sich. Auf diese Weise kann man von beiden Seiten aufeinander zugehen. Ich finde es gut, nicht nur zu erwarten, dass die Normalos das alles von sich aus kapieren. Und dann klappt es auch irgendwie und die Situation verwandelt sich in etwas Liebe- und Humorvolles.

Skip to content