»Wir müssen uns fragen, in welcher Gesellschaft wir leben möchten.«

»Goldstück« thematisiert Frauenhass, Gewalt gegen Frauen und rechte Radikalisierung. Verena Güntner hat das Stück als Auftragswerk für das Theaterkollektiv Pièrre.Vers geschrieben, es ist ihr Debüt als Theaterautorin. Im Rahmen der Recherche führte sie ein Interview mit Christina Clemm, einer Fachanwältin für Familien- und Strafrecht, die seit 28 Jahren Opfer von geschlechtsbezogener und rassistischer Gewalt und deren Angehörige vertritt.
– 23. Juni 2025

Verena Güntner, Foto Stefan Klüter / Christina Clemm, Foto Barbara Wessel
Illustration Hans Peter Maria Müller
Foto Ralf Puder

Goldstück von Verena Güntner wurde erstmalig im Juni beim Kosmos Festival in Chemnitz im Rahmen des Programms zur Kulturhauptstadt 2025 gespielt, ist beim asphalt Festival am 14., 15., 16., 21., 22. und 23. Juli 2025 zu sehen und beim Düsseldorf Festival am 23., 24., 27. und 28. September 2025.

Verena Güntner: Im Jahr 2023 gab es in Deutschland beinahe jeden Tag einen Femizid, doppelt so viele wie im Vorjahr – das hat das Ende 2024 veröffentlichte Lagebild zu »Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten« des Bundeskriminalamts ergeben. Wie erklären Sie sich den massiven Anstieg der Zahlen aller geschlechtsbezogener Gewaltformen?

Christina Clemm: Dass sich die Zahlen verdoppelt haben, stimmt nicht ganz. In den Vorjahren waren es immer etwa 150 Frauen, die im sozialen Nahfeld getötet wurden. Die Zahl 360 schließt darüber hinaus nun auch Femizide mit ein, die nicht im Kontext von Partnerschaftsgewalt verübt wurden. Dennoch muss man aber sagen, dass die geschlechtsbezogene Gewalt im sogenannten Hellfeld angestiegen ist, es also mehr Anzeigen gibt. Dafür gibt es zwei Erklärungsalternativen: entweder ist die Gewalt angestiegen oder die Anzeigenbereitschaft. Um dies exakt beantworten zu können, bräuchten wir eine aktuelle Dunkelfeldstudie, aber die letzte deutschlandweite stammt aus dem Jahr 2004. Zwei kleinere Untersuchungen in Nordrhein-Westfalen und Sachsen legen allerdings nahe, dass sich das Dunkelfeld insgesamt sogar noch vergrößert hat. Wenn das so ist, dann haben wir mehr geschlechtsbezogene Gewalt.

Erklären lässt sich das zum einen damit, dass wir in Zeiten der Krisen leben, Klimakatastrophe, Kriege, die Schere zwischen Arm und Reich wächst und vieles mehr. Konservative und rechtsextreme Bewegungen gewinnen hinzu und proklamieren ein Zurück zu geschlossenen Familienstrukturen, wehrhafte Männlichkeit und den Kampf gegen feministische Errungenschaften. Weiblich gelesene Menschen werden in der Öffentlichkeit immer noch stark und zunehmend reglementiert, sie sollen einem vorgegebenen Rollenverständnis entsprechen. Das wirkt sich aus, wir sehen eine Zunahme von geschlechtsbezogener, aber auch rassistischer und transfeindlicher Gewalt.

VG: Sie schreiben in Ihrem 2023 erschienenen Buch »Gegen Frauenhass«, dass Sie immer wieder erstaunt sind, wie wenig Beachtung das Thema findet, sei es politisch oder in der medialen Wahrnehmung. Auch in der Zivilbevölkerung bliebe ein merklicher Aufschrei nach solchen Taten nahezu immer aus. Warum ist das so?

CC: Das hängt vor allem damit zusammen, dass geschlechtsbezogene Gewalt immer weiter privatisiert wird. Das strukturelle Problem dahinter wird nicht gesehen. Deshalb interessiert sich auch niemand überregional dafür, wenn wieder ein Femizid passiert. Wenn das gesamte Ausmaß der Gewalt ab und an veröffentlicht wird, dann sind viele kurz erschrocken, aber es wird hingenommen. Als sei es einfach nicht veränderbar, dass Männer ihre Frauen schlagen oder töten. Gewalt gegen Frauen wird auf diese Weise normalisiert. Erklären lässt sich das nur damit, dass wir in einem patriarchalen System leben. Gewalt gegen Frauen hat eine lange Tradition in unseren Gesellschaften und dient sogar als stabilisierender Faktor, um das System aufrecht zu erhalten.

VG: Der gefährlichste Moment für die betroffenen Frauen ist der Moment der Trennung oder der angekündigten Trennung, schreiben Sie in Ihrem Buch. Was vollzieht sich da genau?

CC: Für den Mann bedeutet eine drohende Trennung, dass sein gefühlter Anspruch auf die Frau verloren geht. Dies kann dazu führen, dass Männer dies nicht akzeptieren und Rache üben. Dafür gibt es vielfältige Möglichkeiten, eine ist die Ex-Partnerin zu töten. Oft geschieht dies aber auch ökonomisch, indem kein oder nur unregelmäßig Unterhalt gezahlt wird. Sozial, indem schlecht über sie gesprochen wird. Bedrohlich, indem ihr aufgelauert wird. Viele Frauen müssen durch eine Trennung Armut hinnehmen, viele den Verlust des Arbeitsplatzes, der Wohnung, des sozialen Umfeldes. Wenn es gemeinsame Kinder gibt, wird es besonders schwer, denn das Umgangsrecht unterläuft häufig alle Gewaltschutzmaßnahmen. Gegen nachpartnerschaftliche Gewalt wie Stalking und Morddrohungen wird von außen meist nichts unternommen, auch wenn die Betroffene den Ex-Partner anzeigt oder sich auf andere Weise zur Wehr setzt. Manche meiner Mandantinnen fliehen von einem Ort zum nächsten. Und wenn sie Kinder haben, ist es nahezu unmöglich, unterzutauchen. Manche lassen ihre Kinder zurück, weil sie überzeugt sind, nur so ihr Leben und das ihrer Kinder retten zu können.

Einige Femizide werden Jahre nach der Trennung verübt. Ein einzelner Auslöser kann da den Ausschlag geben, etwa wenn eine Frau bei der Scheidung ihren finanziellen Anspruch gerichtlich geltend macht oder sie ein Bild mit einem neuen Partner postet. Ich habe viele Mandantinnen, die auf alles verzichten, die keinen Unterhalt wollen, die Strafanzeigen zurücknehmen – nur, um den Hass des Ex-Partners nicht zu reaktualisieren. Sie wollen nur, dass er sie vergisst. Viele Frauen wissen, wie fragil ihre Sicherheit vor dem Ex-Partner ist und wie schnell sich alles wieder ändern kann. Es ist deswegen nicht verwunderlich, wenn Frauen zu ihren gewalttätigen Partnern zurückkehren. Aber auch dann sind sie ja nicht sicher. Manche Männer töten auch gar nicht die Frau selbst, sondern andere Familienangehörige, die Mutter, die Schwester, den neuen Freund, immer wieder auch die eigenen Kinder – aus Rache. Weil der Mann weiß, dass das die maximale Bestrafung für die Frau ist.

VG: Neben den essenziellen Forderungen nach ausreichend Frauenhausplätzen, mehr Beratungsstellen, flächendeckender psychotherapeutischer Betreuung und kostenlosem Zugang zu Rechtsvertretung – welche gesellschaftlichen Veränderungen sind notwendig, um geschlechtsspezifische Gewalt langfristig einzudämmen?

CC: Ich glaube, wir müssen uns fragen, in welcher Gesellschaft wir leben möchten. In einer, in der Konkurrenz, Gewalt, Egoismus herrscht oder ob wir füreinander Sorge tragen, eine solidarische Gesellschaft der Vielen wollen. Eine Gesellschaft, in der wir aufeinander achten, hinschauen, was anderen und uns widerfährt.

Wir haben bisher auch keinen wirklichen Umgang mit Täterschaft gefunden. Wie können wir Formen von Wiedergutmachung finden, die auch Täter miteinbezieht, die Täter auch rehabilitieren können – und natürlich: Wie können wir verhindern, dass Menschen überhaupt zu Tätern werden? Das funktioniert in erster Linie über Erziehung – Kindern Respekt vor anderen und das Wahren ihrer Grenzen beizubringen, ist dabei entscheidend, auch die Abkehr von klassischen Rollenbildern und geschlechtsbasierten Zuschreibungen.

Generell sollten sich auch Männer fragen, weshalb sie in einer solch gewaltvollen Gesellschaft leben wollen. Warum fällt es vielen Männern zum Beispiel leichter, sich gegen Rassismus zu engagieren, als sich aktiv gegen Sexismus einzusetzen? Die eigene machtvolle Position immer und immer wieder zu hinterfragen und mit männlichen Freunden über geschlechtsbasierte Gewalt zu sprechen, das wäre schon mal ein Anfang.

Es geht darum, für eine solidarische Gesellschaft einzutreten, und damit meine ich nicht nur das Ende des Frauenhasses, sondern selbstverständlich auch des Rassismus und anderer Menschenverachtung, die miteinander verschränkt sind.

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