Kultur ins Grundgesetz – Kampagne des Deutschen Bühnenvereins

Kultur ins Grundgesetz – Kampagne des Deutschen Bühnenvereins

Der Deutsche Bühnenverein hat anlässlich der Bundestagswahl am 23. Februar 2025 die Kampagne #KulturinsGrundgesetz ins Leben gerufen, um ein Zeichen für die Demokratie- und Kulturförderung zu setzen. Als Teil des Deutschen Bühnenvereins beteiligen wir uns an dieser Aktion.
– 13. Februar 2025

Am 23. Februar ist Bundestagswahl. Wir entscheiden, wie sich unser Miteinander gestalten wird, wohin wir uns als Gesellschaft bewegen. Wollen wir weiterhin in Freiheit und Vielfalt leben, brauchen wir die Kunst. Kunst ist der Motor für unsere Vorstellungskraft. Sie kann das Unmögliche möglich, das Undenkbare denkbar und das Unsichtbare sichtbar machen. Kunst zeigt uns, dass die Welt veränderbar ist und dass wir es sind, die die Kraft haben zu verändern.

Darum fordern wir, Kultur als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern.

»Kultur ist kein Ornament. Sie ist das Fundament, auf dem unsere Gesellschaft steht und auf das sie baut. Es ist Aufgabe der Politik, dieses zu sichern und zu stärken.«

Mit diesen Worten hat es bereits die Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« 2007 beschrieben. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, dass Menschen über Kunst und Kultur wieder in die gesellschaftlichen Diskurse zurückfinden und die Zuversicht gewinnen, dass das Leben durch uns gestaltbar und veränderbar ist.

»Gute Rahmenbedingungen für Kunst und Kultur zu schaffen, die kulturelle Infrastruktur auszubauen, die Räume für die freie Entwicklung der Künste offenzuhalten und allen den Zugang zu Kultur zu ermöglichen, ist essenziell für unsere Demokratie und Aufgabe des Staates«, sagt Dr. Carsten Brosda, Präsident des Deutschen Bühnenvereins und Hamburgs Senator für Kultur und Medien. »Denn Kultur ist für alle da – und muss es auch zukünftig sein, wenn wir in Vielfalt und Freiheit zusammenleben wollen.«

Kultur braucht gerade jetzt ein starkes Argument in den Debatten über ihre staatliche Förderung, denn sie bietet uns die öffentlichen Räume, die wir aktuell so sehr benötigen. Die finanzielle Sicherung der Theater und Orchester sowie der freien Szene ist die Grundlage für unsere kulturelle Infrastruktur: Demokratieförderung heißt Kulturförderung!

Weitere Informationen finden Sie auf der Kampagnen-Website
»Theater für Demokratie«
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Die sogenannte andere Seite oder auch: You are not alone. – Ein (demokratischer) Einwurf

Die sogenannte andere Seite oder auch: You are not alone. – Ein (demokratischer) Einwurf

Liebes Publikum, liebe Fachkräfte, liebe zivilgesellschaftliche Akteur*innen und vor allem liebe interessierte, vernunftbegabte, wissbegierige Öffentlichkeit, Sie befinden sich auf einem Fachtag über Verschwörungserzählungen, den ich mir ausgedacht habe. Die Kolleg*innen sagen Text auf, den ich mir auch ausgedacht habe. Sie sehen eine Inszenierung von Christof Seeger-Zurmühlen, Sie bewegen sich durch Räume von Susanne Hoffmann und Sie hören Geschichten über Zauberei, Fabelwesen und eine apokalyptische Bedrohung, die die ganze Welt in den Abgrund reißen wird, die sich … ja, jemand anderes ausgedacht hat. Und das als Autorin zuzugeben ist natürlich nicht ganz leicht, man möchte ja eigentlich immer selbst die originellsten Ideen haben und die grandiosesten Welten erschaffen …

Autorin Juliane Hendes über ihr Stück »Schaf sehen.«, wie Verschwörungserzählungen die Demokratie bedrohen und ob Kunst ein Ausweg sein kann. – 10. Juli 2024

Wir haben uns im Laufe der Vorbereitungen für dieses Stück mehr als ausführlich mit Verschwörungserzählungen beschäftigt und im Angesicht einer übergroßen Anzahl – die weder zu überblicken noch umfassend nachzuvollziehen ist – bleibt mir aber eigentlich nichts anderes übrig, als die Waffen zu strecken und zu sagen: Die Fantasie der »anderen Seite« ist nicht zu übertreffen. Das kann ich mir nicht besser ausdenken. Es ist spannend, faszinierend und einnehmend. Welten, in denen alles vorkommt, wovon mensch nur träumen, wovor mensch Angst haben kann.

Wer ist die »andere Seite«?

Ziemlich schnell nach dieser Erkenntnis folgt dann aber auch schon die Frage: Wie kann es sein, dass es Menschen gibt, die tatsächlich glauben, all diese Geschichten wären real? Also jetzt mal ehrlich. Echsenmenschen? Kinderblut als Anti-Aging-Mittel? Donald Trump als Erlöser? Das kann doch nur mit einer Form von Intelligenzminderung zusammenhängen und einem selbst könnte das natürlich nie passieren! Stopp. Es hat mit mangelnder Intelligenz natürlich nichts zu tun und doch, es kann jedem und jeder passieren. Die Thematik ist viel komplexer, als es den Anschein hat und es würde hier jetzt viel zu weit führen und auch ungenügend ausgehen, sie in allen Facetten auszubreiten. Das gilt im Übrigen nicht nur für diesen kleinen Einwurf der Autorin, sondern wahrscheinlich auch für den Theaterabend selbst.

Wer weiterführendes Interesse hat, sich zu informieren, und das würde ich aus den unterschiedlichsten Gründen sehr begrüßen, ist herzlich eingeladen, sich mit den Veröffentlichungen von Julia Ebner, Michael Butter, Pia Lamberty und Katharina Nocun* zu beschäftigen. Eine Literaturliste füge ich unten genauso an wie einen Hinweis, wohin Sie sich wenden können, wenn Sie oder jemand Ihnen Nahstehendes Hilfe sucht. Die Werke und Angebote dieser Menschen kann ich nur wärmstens empfehlen. Sie haben – ganz im Sinne der Verschwörungserzählungen – Licht ins sogenannte Dunkel gebracht. Zumindest soweit es geht, denn am Ende des Tages bleibt man, wenn man eben nicht mittendrin ist – und das trifft auf alle Bereiche zu, in denen es schließlich und endlich um Glauben geht – doch außen vor.

Fassen wir also nach dieser kurzen Textstrecke zusammen: Die Fantasie dieses Abends entsprang aus fremder Leute Einfallsreichtum, das Thema ist zu groß, um es wirklich zu fassen und die Antworten auf die gestellten Fragen stehen in anderer Leute Bücher – was machen wir also eigentlich hier? Was soll uns ein Theaterabend über Verschwörungserzählungen bringen, was wir nicht schon zu wissen glauben? Wir Künstler*innen auf der einen, Sie Publikum auf der »anderen Seite«? Und meine Antwort ist: Wir (er)leben Demokratie. Und zwar mit Ihnen – unserem Publikum – zusammen. Achja? Ja. Und ich sage Ihnen auch, warum.

Kevin Costner, die Illuminaten und Chemtrails – eine Bedrohung für die Demokratie?

Je tiefer ich vorgedrungen bin in die Welten der Verschwörungserzählungen, desto klarer ist mir geworden, dass Übergänge immer fließend sind. Eben hat man noch einen Hollywoodfilm mit Kevin Costner geguckt und fand die filmische Argumentation dann doch irgendwie schlüssig, im nächsten Moment steckt hinter der Ermordung des amerikanischen Präsidenten eine wie auch immer geartete (meist jüdische) Elite, die die Weltherrschaft an sich reißen will. An einem ruhigen Abend auf der Couch lässt man sich gerne von den Büchern von Dan Brown unterhalten, doch schon am nächsten Tag könnten die Illuminaten auch das eigene Leben – wie das von Tom Hanks – in Gefahr bringen. Eines schönen sonnigen Tages fährt man auf einen Bauernhof, weil man seinen Zwillingsbruder sucht oder einfach in der Natur und der Nähe von Tieren sein möchte – und zack! – sitzt man am Tisch mit Menschen, die an die Vergiftung durch Chemtrails glauben. Diese Aufzählung besteht aus oberflächlich ausgedachten Beispielen, aber sie könnten auf die eine oder andere Art auch wahr sein. Was sie aber nicht sind: Eine Bedrohung für unsere Demokratie. Sie sind vielleicht Spinnereien, aber Menschen haben in diesem Land alles Recht der Welt, wider besseren Wissens zu glauben was und an wen immer sie wollen. Auch wenn das erstens schwer zu verstehen ist, zweitens die gemeinsame Kommunikation bis zur Unmöglichkeit einschränkt und drittens – vor allem für betroffene Angehörige – fast unmöglich zu akzeptieren ist. Das gilt aber nur solange keine Pläne involviert sind, die z. B. eine Versammlung vor einem Regierungsgebäude einschließt, mit der Absicht, dort einen Systemputsch einzuleiten. Oder Vergleichbares.

Diese Art der Gratwanderung von Ablehnung und Akzeptanz trifft aber nicht nur auf unseren Umgang mit Menschen zu, die an Verschwörungserzählungen glauben – die »abrutschen« oder »abgerutscht« sind –, sondern auch auf den Umgang unter uns, die wir in unserer Demokratie leben und sie auch gestalten. Ich möchte Ihnen dazu einen Einblick in unsere Proben geben: Wir hatten während der letzten Wochen – wie immer, wenn wir zusammen an einem Stück arbeiten – einige Diskussionen zu den verschiedensten Themen. Gegenstand einer besonders intensiven war die Frage: Wo liegt die Grenze? Was muss erlaubt sein in diesem Land und was nicht? Auf der einen Seite gilt: Menschen können so viele Meinungen und Ansichten haben und verbreiten, wie sie wollen. Auf der »anderen Seite« gilt: Menschen dürfen die Demokratie nicht angreifen. Aber was genau greift die Demokratie an? Und was müssen wir als ihren Bestandteil akzeptieren? Alles ab der AfD ist gefährlich, soweit so klar, aber was ist mit den Meinungen, die konservativ sind, oder sogar noch weiter rechts (nicht rechtsradikal) im Spektrum der politischen Möglichkeiten? Wie geht man mit ihnen um? Es gab verschiedene Ansichten. Die Einen sagten, es braucht ein gutes konservatives Angebot. So schwer es auch zu ertragen ist – aus einer sehr linksliberalen Perspektive –, es braucht Menschen wie Friedrich Merz und Meinungen wie die von Friedrich Merz in der öffentlichen Debatte. Denn diese Meinungen gibt es auch in der Bevölkerung. Denn genau das ist ja Demokratie. Es geht um Repräsentation. Oder? Von einem anderen Teil der Gruppe kamen vehemente Einsprüche. Die Meinungen der CDU aus den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts wieder zuzulassen, ist ein massiver Rückschritt. Es muss Grenzen geben und die Grenzen liegen da, wo sich jemand hinstellt und behauptet, Ausländer nähmen uns die Termine beim Zahnarzt weg. Denn das ist erstens falsch, zweitens Populismus und drittens sollte so etwas in einer zivilisierten, aufgeklärten Republik kein Argument sein, um die Grenzen wieder zu schließen, damit wir hier »unsere Ruhe haben«, während Menschen außerhalb unserer Grenzen sterben. Vor allem wir als Deutsche wissen doch wohl sehr gut, wo derartige Ausschlussverfahren enden können.

Die Freiheit des bürgerlichen Subjekts als kleinster gemeinsamer Nenner.

Ich teile die Verzweiflung darüber, dass es möglich ist, in diesem Land solche Dinge zu sagen. Und ich höre Mario Voigt – Spitzenkandidat der CDU für die anstehende Landtagswahl 2024 in Thüringen – bei seinen Wahlkampfreden und Interviews zu und halte es kaum aus. Eine Lüge folgt auf die nächste. Überspitzend und im Sinne seiner Agenda führt er Menschen in die Irre. Oder wiegelt sie zumindest auf. Eine unerträgliche Art und Weise, Politik und Stimmung zu machen. Aber er ist nicht der Spitzenkandidat der AfD. Er bekennt sich umstandslos zur Demokratie. Damit ist er an das Grundgesetz gebunden, auf dem unser Zusammenleben und unsere freiheitliche Grundordnung basiert. Das ist nicht in Stein gemeißelt und sicher sind wir in unserer Realität noch davon entfernt, dem Ideal, das dort vor 75 Jahren festgehalten wurde und das seit 1990 im ganzen Land gilt, wirklich zu entsprechen. Aber er und auch Friedrich Merz bekennen sich dazu und können und sollten somit auch an ihm gemessen werden. Ist meine Haltung also: Um die AfD zu vermeiden, akzeptiere ich sogar jemanden wie Friedrich Merz? Vielleicht lohnt es sich an dieser Stelle, nochmal die Prämissen des Konservativismus in Deutschland in Erinnerung zu rufen, um nicht in aller Leichtfertigkeit zu vergessen, dass konservativ sein immer auch bedeutet, den Status Quo zu erhalten und im Zweifel Narrative zu erzählen, die vor allem den eigenen Zwecken nützen, die die eigenen Interessen immer vor die von Anderen stellen. Und der Status Quo schloss in der Geschichte der Bundesrepublik (konservative Kräfte in der DDR sind nochmal eine Geschichte für sich) natürlich auch das Ablehnen der Bürgerrechtsbewegung als auch der Frauenbewegung ein, von deren Errungenschaften wir bis heute profitieren. Von deren Errungenschaften ich profitiere. Was heißt das jetzt also? Ich kann verurteilen, wie die CDU/CSU und auch die FDP und ja manchmal auch die Parteien, denen ich eher zugeneigt bin, in mancher Sache argumentieren. Oder wie sie sich im politischen Alltag benehmen, weil es inzwischen auch darum geht. Aber im Angesicht einer lange nicht dagewesenen Anhäufung von Krisen ist klassisches Lagerdenken vielleicht überholt. Vielleicht ist es nicht an der Zeit, Einteilungen in »meine« und in die »andere Seite« vorzunehmen. Vielleicht ist es eher Zeit dafür, Gemeinsamkeiten zu suchen, Gemeinschaft zu stiften und Bündnisse zu schmieden, wo sie möglich sind. Und wo sind sie möglich? Solange mein Gegenüber nicht die Freiheiten der bürgerlichen Subjekte anzweifelt, kann und muss ich mit ihm reden und versuchen, zu Lösungen unserer derzeitigen Probleme zu kommen. Wenn die Lösungen meines Gegenübers aber sind: Frauen zurück an den Herd oder Schlimmeres, dann nicht. Konservative und rechte Stimmen sind ein Teil von Deutschland. Sie sind Teil der Realität, sobald man die Zeitungen morgens aufschlägt. Sie sind Teil der Realität in fast jeder Familie in diesem Land. Sie sind Teil meiner Familie.

Eine neue Normalisierung?

Gemeinsamkeiten zu suchen und Bündnisse zu schmieden mit der »anderen Seite«, fühlt sich schnell an wie die Normalisierung, vor der seit dem zweiten Weltkrieg gewarnt wird. »Wehret den Anfängen«, heißt es. Und ich will mich wehren. Ich will unsere Demokratie mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, verteidigen, weil ich nur in ihr so denken und arbeiten kann, wie ich es tue. Aber gegen wen verteidige ich sie? Was ist eine Bedrohung? Und was ist nur dummes Geplapper? Und was ist beides? Das gilt es jeden Tag auf’s Neue herauszufinden. Und auszuhandeln. Im Austausch von Ansichten und Meinungen und nicht mit dem kategorischen Ausschluss der »anderen Seite«. Aber vielleicht ist das auch nur meine Meinung, wie unsere Gesellschaft funktionieren sollte. Ich schreibe hier so altklug daher, aber ehrlich gesagt, weiß ich natürlich auch nicht genau, wie sie richtig geht, die Demokratie.

Also: Was ist denn Demokratie?

Jetzt mal Hand auf’s aufgeklärte Herz. Wer weiß denn ganz genau, wie unsere Demokratie funktioniert? Und funktionieren sollte? Und warum sie es wert ist geschützt zu werden. Nicht dass, sondern warum. In den sozialen Medien sind kurz vor den Wahlen meine Timelines voll mit: »Geht wählen!« / »Wählen oder Nazi.« / »Nutze deine Stimme, bevor sie ein anderer nutzt!« Aber wenn draußen die Sonne scheint und ich auch noch eine weitere Stunde auf dem Flohmarkt verbringen kann, der nur einmal im Monat ist, wie wichtig ist meine Stimme denn dann noch? Ist es wirklich so schlimm, wenn ich sie nicht abgebe? Ist doch nur eine. Und selbst wenn ich sie abgebe, fühlt es sich ja immer nur nach einem sehr kleinen Beitrag an, den ich da zur Demokratie leiste. Und der ist auch noch abstrakt.

In der Schule wurde mir erklärt: Die Demokratie, das ist der Weisheit letzter Schluss. Aber was genau ist daran so weise? Na, hier sitzen Leute in diesem Gremium (aha, Gremium, was ist das nochmal?), da machen Leute so Arbeitskreise (ok, Arbeitskreise, alles klar) und dann gibt es da noch die Dreifaltigkeit der Gewaltenteilung, et voilà! (Ja, hab ich so mittelgut verstanden, die ganze Kiste.) Welche Rolle spiele ich denn als Individuum, ich als ich, ich als Bürgerin in diesem Staat? Wir sind knapp 84 Millionen, wie wichtig ist denn meine Meinung? Meine eine Stimme? Und was passiert mit dieser Stimme, wenn ich sie auf eben jenem Flohmarkt liegen lasse, vielleicht sogar neben irgendwelchen freizügigen Klamotten, die ich mir gerade aussuche, weil ich im Sozialkundeunterricht nicht wirklich verstanden habe, dass es meine Verantwortung ist, in diesem Land genau diese Stimme zu nutzen? Weil ich nicht verstanden habe, dass genau diese Stimme es mir überhaupt erst ermöglicht, auf monatlichen Flohmärkten alle freizügigen Klamotten der Welt auszusuchen, weil ich nicht verstanden habe, dass ich mit allen anderen die Macht in diesem Staat bin. Die Macht geht vom Volke aus und das bin ich. Die Macht, das bin ich. Nicht allein, aber eben auch ich.

Das Stichwort ist Selbstwirksamkeit. Es ist eben schwer zu begreifen, dass »die da oben« von uns gewählt wurden, dass sie wie wir sind und in unserem Auftrag arbeiten. Menschen kommen nicht durch Zauberhand in ihre Positionen und dadurch an die Macht. Das machen wir. Und wenn wir mit ihnen nicht zufrieden sind, dann müssen wir sie abwählen. Und wenn es kein Angebot gibt, das uns genügt, und diese Tatsache macht uns sauer, richtig wütend!, dann müssen wir selbst tätig werden. Dann sind wir in der Verantwortung, uns einzubringen. Und es muss ja nicht sofort in einer Partei sein, es kann auch ein Verein sein oder eine Initiative (oder eine Theatergruppe). Oder eine Demonstration. Aber es muss demokratisch sein. Und – und auch das muss in aller Deutlichkeit gesagt werden: Es gibt keine einfachen Lösungen. Das können wir uns – und das passt gut, denn wir machen hier ja immer noch Theater – abschminken. Und damit wären wir dann auch zurück bei den Verschwörungserzählungen.

Ich hätte gerne ein Happy End.

Eines der Hauptargumente, die angeführt werden, warum Menschen sich in Verschwörungserzählungen verlieren können, sind die angebotenen Erklärungsmuster: Einfache Lösungen für komplexe Probleme. Und das ist immer ein Irrtum. Auch wenn es leichter ist, den einfachen Lösungsangeboten zu folgen – in der Politik und in der Märchenwelt – die Wege, die wir beschreiten müssen, um in unserer Gesellschaft weiter voranzukommen und vor allem zusammenzubleiben, sind lang und beschwerlich. So muss es sein, das ist Demokratie. Aber so möchte ich diesen Einwurf nicht beenden. Das ist ein furchtbares Ende: Der richtige Weg, ist der, der am meisten nervt. Ich nehme nochmal Anlauf und versuche es so: Sie befinden sich auf einem Fachtag über Verschwörungserzählungen, den ich mir mit großer Freude ausgedacht habe, weil ich mit dem Theaterkollektiv Pièrre.Vers seit Jahren Kolleg*innen und Verbündete habe, die sich mit künstlerischen und teilweise auch aktivistischen Mitteln für eine demokratische Gesellschaft einsetzen. Die sich dafür entschieden haben, dass Kunst etwas bedeuten kann, einen Sinn haben kann und dabei nicht vergessen, dass politisches Theater auch nur Theater ist. Und sie sind nicht allein. Dieser Theaterabend wird mit Ihrer Anwesenheit – ja, Ihrer, liebes Publikum – zu gelebter Demokratie. Genauso, wie dieser Text hier gelebte Demokratie ist. Das klingt sehr groß für einen einzigen Theaterabend, aber demokratisches Leben beginnt im Kleinen, beginnt bei uns, zwischen uns, mit uns. Und da kann man es auch spüren. Und wie auch immer Sie aus diesem Text und aus diesem Abend rausgehen werden, eines werden Sie ganz sicher wissen: Wenn Sie wollen, dass die Demokratie dieses Landes die derzeit herrschende stürmische Zeit überlebt, dann sind Sie nicht allein. Wir sind mit Ihnen und Sie mit uns. Und das ist das viel bessere Ende für diesen Einwurf.

Am Ende erstaunlich hoffnungsvoll,
Ihre Juliane Hendes

*Leseempfehlungen zum Thema »Verschwörungserzählungen« (kleine Auswahl)

– »Nichts ist, wie es scheint« von Michael Butter
– »Radikalisierungsmaschinen – Wie Extremisten die neuen Technologien nutzen und uns manipulieren« von Julia Ebner
– »Fake Facts: Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen« von Katharina Nocun und Pia Lamberty
– »Umkämpfte Wissenschaften – zwischen Idealisierung und Verachtung« von Frieder Vogelmann

Zugabe – Das asphalt-Nachgespräch

Zugabe – Das asphalt-Nachgespräch

 

Wie reden wir miteinander, wie sehen wir einander? Und wie kommen wir zusammen – im Skatepark, am Esstisch oder im Theater? Kommen Sie mit den Menschen ins Gespräch, die unsere Räume bespielen und sich mit Ihnen verbinden möchten. Im Anschluss an ausgewählte Vorstellungen laden wir als »Zugabe« zu Nachgesprächen mit Autor*innen, Regisseur*innen, Schauspieler*innen und Tänzer*innen ein. Es moderieren im Wechsel die Journalistin Marion Troja und die Kulturschaffende Miriam Owusu-Tutu.

Die moderierten Nachgespräche finden im Anschluss an folgende Vorstellungen auf der Bühne statt:

Do 11 Juli Aurora Negra / Schwarze Morgenröte
19:30 Uhr, D’haus Central

Fr 12 Juli است / Ist
20:00 Uhr, D’haus Central

Sa 13 Juli Juri Andruchowytsch – Eine Rede
11:00 Uhr, 34OST

Sa 13 Juli Moscoviáda
19:30 Uhr, D’haus Central

Mo 15 Juli Our Son
18:30 Uhr, 34OST

Kunst ist bedroht, Künstler*innen sind in Gefahr. Was bedeutet es, in Iran die Geschichte von Mädchen in einer Teheraner Schule zu erzählen? Und was bedeutet es für die Künstlerinnen, dieses Stück mit dem Titel » است» (Ist) den Menschen in Düsseldorf zu präsentieren? Autor und Heine-Preisträger Juri Andruchowytsch blickt gemeinsam mit dem asphalt-Publikum auf die Inszenierung seines Romans »Moscoviáda« und darauf, dass sich seine Dystopie 30 Jahre später nahezu eingelöst hat. Also lasst uns reden.

Wie reden wir miteinander, wie sehen wir einander? Und wie kommen wir zusammen – im Skatepark, am Esstisch oder im Theater? Kommen Sie mit den Menschen ins Gespräch, die unsere Räume bespielen und sich mit Ihnen verbinden möchten. Im Anschluss an ausgewählte Vorstellungen laden wir als »Zugabe« zu Nachgesprächen mit Autor*innen, Regisseur*innen, Schauspieler*innen und Tänzer*innen ein. Es moderieren im Wechsel die Journalistin Marion Troja und die Kulturschaffende Miriam Owusu-Tutu.

Marion Troja ist Kommunikationsleiterin beim Deutschen Bühnenverein. Die Journalistin hat lange als Kulturredakteurin und Theaterkritikerin gearbeitet und in ihrer Zeit als stellvertretende Kommunikationsleiterin am Düsseldorfer Schauspielhaus u. a. den Programmpodcast »Was wird hier gespielt?« moderiert.

Miriam Owusu-Tutu ist Kulturschaffende und arbeitet seit Jahren mit verschiedenen kulturellen Institutionen in Düsseldorf und NRW zusammen. Sie ist Gründungsmitglied der Kollektive »Schwarzes Haus« und »Shapes &Shades«. Außerdem ist sie Dramaturgieassistentin am Düsseldorfer Schauspielhaus.

»Vielleicht können Sie hier all das finden, was in Ihrer Familie unausgesprochen ist«

»Vielleicht können Sie hier all das finden, was in Ihrer Familie unausgesprochen ist«

»Our Son« spielt in einem Wohnzimmer in Serbien. Der homosexuelle Sohn ist schon erwachsen, lebt so weit weg wie möglich und kommt zu Besuch nach Hause. Die Eltern lieben ihr Kind, finden aber einfach keinen Weg, seine Homosexualität zu akzeptieren. Wer trägt die Schuld daran, dass ihr Sohn nicht »wie der Rest der normalen Welt« ist? Hat sich der Vater nicht genug um ihn gekümmert? Liegt es daran, dass die Mutter ihn zum Chor geschickt hat? Und der Sohn möchte einfach nur seinen Freund vorstellen …
– 20. Juni 2024

Der kroatische Autor und Regisseur Patrik Lazić über die Entstehungsgeschichte seiner autobiographisch gefärbten Erfolgsproduktion »Our Son«, Ratgeberliteratur zu Konversionstherapien und Publikumsreaktionen.

asphalt zeigt »Our Son« am 15. und 16. Juli 2024 jeweils um 18:30 Uhr im 34OST im serbisches Original mit deutschen und englischen Übertiteln.

Die Idee, dass Homosexualität »geheilt« werden könne, gibt es schon seit langem, aber erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich die Vorstellung durch. Ursprünglich wurde die Homosexualität als Erbkrankheit betrachtet und mit Hysterie, Epilepsie und Schizophrenie gleichgesetzt. Die Behandlungs- und Umerziehungsmethoden, die damals häufiger auf Lesben angewandt wurden, fanden in Anstalten statt, in denen Mädchen oft sexuell missbraucht und vergewaltigt wurden. Wenig später wurden »schwule Bakterien« für die Homosexualität verantwortlich gemacht, so dass die »unerwünschte« Anziehungskraft schwuler Männer durch die Transplantation von Hoden beseitigt werden sollte.

Sigmund Freud vertrat die Auffassung, dass alle Menschen ursprünglich bisexuell sind und erst im Verlauf psychosozialer Prozesse heterosexuell werden. Demzufolge sei eine medizinische Behandlung der Homosexualität »sehr schwierig oder fast unmöglich«. Freuds Brief an die Mutter eines schwulen Sohnes (1935) ist bekannt: »Homosexualität ist kein Vorteil, aber sie ist auch nichts, wofür man sich schämen müsste«, schreibt er. Freud erklärteder Frau, dass Homosexualität nicht als Krankheit, sondern als eine Variante der Sexualität betrachtet werden könne, und er sehr skeptisch sei, was die Ergebnisse einer Behandlung angeht. Obwohl Freud die Möglichkeit offenlässt, dass er in ihrem Sohn die »Keime der Heterosexualität« entwickeln könne, ist er der Meinung, dass es besser wäre, ihn mit Hilfe der Psychoanalyse glücklicher und weniger neurotisch zu machen, ob er nun homosexuell bliebeoder nicht.

Im Gegensatz zu Sigmund Freud betrachteten spätere Psychoanalytiker Homosexualität als pathologische Perversion des Ödipuskomplexes, und so folgten zwischen Freuds Tod und der endgültigen Streichung der Homosexualität aus der Liste der Krankheiten (1973) viele Jahre mit verschiedenen Versuchen und Behandlungsmethoden. Oft wurde versucht, Männer mit Lobotomien, Eisbädern, Hormonen, Kastration, Sterilisation, Erbrechenstherapie, Elektroschocks zu heilen. Wie in dem Film »A Clockwork Orange« wurden den Patienten homosexuelle Inhalte vorgespielt und dann Medikamente zum Erbrechen injiziert, um Ekel vor dem Gespielten zu entwickeln. Das gewünschte Ergebnis wurde in den meisten Fällen erzielt, aber erzeugte auch Ekel vor allen Formen von Sexualität und sexuelle Frustration. Ähnliches wurde mit Elektroschocks an männlichen Genitalien versucht, wenn sie durch den »falschen Reiz« erregt wurden, was ein Versuch war, Homosexuelle wie Bären und Hunde in Experimenten reflexartig zu konditionieren.

Jahre nachdem Homosexualität von der Liste der psychischen Störungen gestrichen worden war, wurden verschiedene pseudowissenschaftliche Therapien in psychologischen Praxen, isolierten Lagern und religiösen Gemeinschaften weitergeführt. Meistens schickten die Familien Kinder und Jugendliche zur Behandlung, wo sie Demütigungen, traumatischen Manipulationen oder Gewalt ausgesetzt waren. Obwohl keine der genannten Methoden jemals erfolgreich war oder wissenschaftlich bewiesen wurde, obwohl sie fast immer Depressionen, Ängste, Schuldgefühle und Entmenschlichung, Selbstmordgedanken und -versuche hervorriefen, gibt es immer noch Menschen, die die Behandlung von Homosexualität befürworten oder aktiv durchführen. Es gibt eine kleine Anzahl von Ländern, die die Durchführung von Konversionstherapien strikt verbieten, doch mit der Ausbreitung von Selbsthilfebewegungen ist jedoch eine Reihe von Ratgeberliteratur zur Heilung von Homosexualität entstanden. Mit einem solchen Buch, das in Buchhandlungen im Psychologie-Regal zu finden ist, beschäftigen wir uns in dem Stück »Our Son«

Ich betrachte mein Projekt »Our Son« als einen Versuch, meine Sexualität zu verstehen. Indem ich mit autobiografischen Elementen und denen meiner Familie spiele – an der Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion –, wende ich verfügbare psychologische und »parapsychologische« Theorien an, um die sexuelle Identität zu verstehen, mit der ich heute lebe. Mit viel Humor, Ironie und Witzen auf unsere eigenen Kosten bieten wir den Zuschauer*innen eine intime Theatererfahrung in einem nicht-traditionellen Bühnenraum, in dem sie Zeuge eines fiktiven Treffens von Mutter, Vater und Sohn werden. Hier werden Rechnungen beglichen und (un)verheilte Wunden, (un)befriedigte Bedürfnisse und Ängste in Frage gestellt. Warum sollten Sie sich das ansehen? Vielleicht können Sie in meinem Schweigen all das finden, was in Ihren Familien unausgesprochen ist, vielleicht können Sie in meinen Dilemmas Ihre eigenen roten Linien erkennen, und vielleicht können Sie in meiner Ehrlichkeit Ihre eigene Bereitschaft für die neue Zeit hinterfragen, die bereits gekommen ist.

»Our Son« entstand für das Heartefact Pride Theater Festival, das während der Pride Week im Rahmen der EuroPride 2022 in Belgrad stattfand. Für in- und ausländische Gäste wurde das Stück mehrmals aufgeführt und bekam sehr positiven Kritiken, was beweist, dass die Produktion über das lokale und regionale Thema hinausgeht und eine universell verständliche Geschichte über Akzeptanz und Erwartungen ist. Das Stück wird weiterhin regelmäßig in Belgrad aufgeführt, außerdem wird es zu internationalen Gastspielen eingeladen. »Our Son« trägt nicht nur dazu bei, einen offenen Raum für Vielfalt zu schaffen, sondern auch die EuroPride in Belgrad bekannter zu machen – die erste EuroPride in diesem Teil Europas und außerhalb der Europäischen Union, die es trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse geschafft hat, sich zu behaupten und ein toleranteres und aufgeschlosseneres Belgrad und Serbien zu zeigen.

Das Stück wurde ursprünglich in einer Belgrader Wohnung aufgeführt, um das Publikum buchstäblich in den Privatbereich einer Person eindringen zu lassen. Dieses Konzeptentspringt meiner Erfahrung, dass es bei Gesprächen über das Thema Homosexualität oft ein großes Bedürfnis gibt, in die intimsten Bereiche des Lebens des anderen zu blicken. Darüber hinaus ermöglicht die Konstellation, bei der das Publikum und die Schauspieler im selben Wohnzimmer sitzen, in der das Publikum die Suppe und die Lasagne riechen kann, eine stärkere emotionale Erfahrung. Es gibt aber auch eine Version für Theater- und Tanzsäle, bei der das Stück vor etwa hundert Personen gespielt werden kann. In dieser Version [die beim asphalt Festival gezeigt wird] umgibt das Publikum die Schauspieler*innen auf drei Seiten und begrenzt so den Spielraum.

Nach jeder Aufführung erreichen uns aufrichtige, emotionale und oft ergreifende Nachrichten aus dem Publikum. Ich möchte eine davon mit Ihnen teilen, wobei wir die Privatsphäre und die Identität des Absenders wahren:

»Es hat einige Zeit gedauert, bis ich nach dem Stück wieder zur Vernunft gekommen bin. Ich wollte Ihnen für das, was wir gesehen haben, danken. Als jemand, der schon lange nicht mehr mit seiner Mutter gesprochen hat, weil sie meine Sexualität nicht akzeptieren kann, waren diese Dialoge unsere Dialoge. Dieser Austausch, das Schweigen, die Ablehnung… Es ist, als ob ich mein Leben beobachtet hätte. Und es gibt keine Erleichterung, außer die Verhaltensmuster und den gemeinsamen Schmerz zu erkennen, in denen sich Familien wie diese befinden. Nach der Vorstellung bin ich nach draußen gegangen, um die Ecke gebogen, haben mich auf eine Bank gesetzt und geweint. Mir ist jetzt klar, dass die Unfähigkeit zur Akzeptanz mir alles sagt, was ich wissen muss.«

»Die Tür wurde geöffnet, die Maschine ist in Bewegung, es gibt kein Zurück mehr«  

»Die Tür wurde geöffnet, die Maschine ist in Bewegung, es gibt kein Zurück mehr«

Die Mitglieder des Künstlerkollektivs Aurora Negra entwickeln Theater aus ihren Biografien heraus und sprechen auf der Bühne in der ersten Person, als Subjekt ihrer eigenen Geschichte. Ihre erste gemeinsame Produktion »Aurora Negra« feierte 2020 am Teatro Nacional D. Maria II. in Lissabon Premiere. Es war in der 175-jährigen Geschichte des portugiesischen Nationaltheaters die erste Aufführung eines Stücks, das von schwarzen Portugiesinnen afrikanischer Abstammung geschrieben und auf der Bühne präsentiert wurde. Darin geht es um Themen, die uns als Gesellschaft definieren – Freiheit, Gleichheit, Repräsentation, Gerechtigkeit. Cleo Diára, Isabél Zuaa und Nádia Yracema sprachen vor der Premiere über ihre Erfahrungen als schwarze Künstlerinnen im überwiegend weißen Kulturbetrieb, die gewiss auf zahlreiche Länder der Welt übertragbar sind.
– 24. Mai 2024

Das Gespräch führte Maria João Guardão am 15. August 2020 für das Programmheft der Uraufführung von »Aurora Negra« am Nationaltheater in Lissabon. Wir veröffentlichen eine gekürzte Übersetzung der portugiesischen Originalfassung.

asphalt zeigt »Aurora Negra« am 11. Juli 2024 um 19:30 Uhr im D’haus Central auf Englisch und Portugiesisch mit deutschen Übertiteln.

Isabél Zuaa: Innerhalb der Gesellschaft ist ein gesunder Austausch wichtig, aber in der Realität ist dieser Austausch seit einigen Jahrhunderten unausgeglichen. Denn wir wissen alles über unsere weißen Mitmenschen – kennen ihre Bücher, ihre Philosophen, ihre Religion –, und unsere Mitmenschen kennen uns nicht wirklich. Vielleicht kennen sie unser Essen, vielleicht kennen sie unsere Fingerabdrücke, aber sie kennen nicht unsere Schmerzen, vielleicht nicht einmal unsere Freuden. Wir stehen auf der Bühne, um zu teilen. Es braucht einen Moment des Zuhörens, um ein anderes Verständnis zu schaffen. Ich kenne weiße Künstlerinnen und Künstler, ich habe sie in Büchern kennengelernt, ich habe sie auf Bühnen kennengelernt, ich habe sie im Kino kennengelernt, und jetzt werde ich mich selbst vorstellen. Es ist nicht die Sicht anderer auf mich, es ist meine eigene Sicht auf meine eigene Erfahrung.    

Nádia Yracema: Wir nehmen uns auf der Bühne einen Moment Zeit zum Reden, ohne unterbrochen zu werden. Wenn man über Rassismus spricht und die Leute nicht zuhören wollen, sagen sie: »Aber ich bin kein Rassist!« Wir bitten das Publikum nur sich anzuhören, was wir zu sagen haben. Sie sollen es in keiner Weise als persönlichen Angriff auffassen. Aber man kann schwarze Freunde haben und rassistisch sein, man kann das Essen anderer Kulturen mögen und rassistisch sein, man kann mit Schwarzen ausgehen und rassistisch sein und den Rassismus aufrechterhalten! Das ist es ja gerade. Das liegt in unserer Erziehung begründet. Und beide Seiten müssen das dekonstruieren.  

Cleo Diára: Wir müssen ein ernsthaftes und verantwortungsvolles Gespräch darüber führen, wer wir als Gesellschaft sind, ohne uns angegriffen zu fühlen. Und anderen Menschen und der Existenz anderer Geschichten eine Chance geben, denn wenn es nur eine Geschichte gibt, bedeutet das, dass ein Teil zum Schweigen gebracht wird, wie die Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie sagt. Denn wir alle sind Teil dieser Gesellschaft, und das ist für mich der springende Punkt: Wir haben diese Möglichkeit, nicht immer am Rande der Geschichten zu stehen, die uns erzählt werden. Die erste schwarze Frau, die ich auf der Bühne gesehen habe, war Isabél 2017 in Mosambik. Ich bin früher nicht ins Theater gegangen. Aberwenn ein schwarzer Körper einen Raum besetzt, siehst du dich selbst repräsentiert, und diese Repräsentation gibt dir die Möglichkeit zu träumen.

Isabél Zuaa: Ich ging oft ins Theater und zu Ausstellungen und war die einzige schwarze Frau an diesen Orten, nicht nur auf der Bühne, sondern auch hinter der Bühne! Und ich dachte automatisch: »Dieser Ort ist nichts für mich, ich bin dort nicht willkommen.« Die meiste Zeit wurde ich sehr gut behandelt, aber es war das »Black-Only-Syndrom« in einem privilegierten Umfeld. Nádia und Cleo hatten das Glück, gemeinsam das Konservatorium zu besuchen. Aber ich, obwohl sehr geliebt und geschätzt, war die Einzige an der Escola Superior de Teatro e Cinema, und viele Dinge, die ich sagte, haben die Leute nicht verstanden. Es ist alles sehr komplex, weil man nicht dem entspricht, was die Leute von einem erwarten. Ich hatte also das Gefühl, dass ich an einem Nicht-Ort war. Heute glaube ich, dass dies ein Zwischenort der Erfahrung ist. Ich habe zwischen 2012 und 2016 in Brasilien gelebt und Performances und Fotografien zu diesen Themen gemacht. Aber nicht in Portugal, dem Land, in dem ich geboren wurde – ich weiß nicht, ob ich es als mein Heimatland bezeichnen kann. Und als ich zurückkam und erst Cleo und dann Nádia traf, wurde mir klar, was für eine Chance es war, zwei schwarze Künstlerinnen zu haben, meine Spiegel! Wir konnten über Themen sprechen, die wir kennen, weil wir die gleichen Erfahrungen haben. Und gemeinsam arbeiteten wir drei an unseren Wünschen.    

Nádia Yracema: Am Anfang wollten wir über das Thema der schwarzen arbeitenden Frauen sprechen, die es ermöglichen, dass diese Gesellschaft in gewisser Weise weiterbesteht, die putzen, die waschen, die um vier Uhr morgens aufwachen und niemand sieht, die alles machen und dann verschwinden. Und dann wurde uns klar, dass die Geschichte unserer Mütter genau die Geschichte dieser Frauen ist, die immer in der Küche, in der Fabrik, beiihrer Putzstelle gearbeitet haben. Und plötzlich sprachen wir auch über das, was uns ausmacht, und stellten fest, dass uns sehr viel verband. Ich bin jetzt Portugiesin – seit Dezember, 20 Jahre, nachdem ich hierhergekommen bin! Auch für Cléo ist es ein Kampf, die mit 10 oder 11 Jahren nach Portugal kam, und für Isabél, die hier in Estefânia geboren wurde. Es gab also sehr starke Verbindungspunkte: unsere Mütter, dieser Ort dazwischen, die Frage, wie man die Bühne betrachtet. Bevor ich studierte und Künstlerin wurde, dachte ich, dass ich in der Welt der Kunst einen Ort finden würde, an dem ich ohne Scham existieren könnte, an dem es nicht die Vorurteile über meinen Körper gäbe, die ich in der Gesellschaft spürte. Und es war ein Schock für mich zu erkennen, wie präsent diese Strukturen in der portugiesischen Kunst sind und wie elitär sie ist und wie sie immer noch Stereotypen, Konventionen und Narrative aufrechterhält, die völlig ausgrenzend und langlebig sind. Das Stipendium öffnete also eine Tür [Aurora Negra ist das Gewinnerprojekt des Amélia Rey Colaço-Stipendiums 2019].

Cleo Diára: Es ist wirklich eine Schwesternschaft, die sich gebildet hat, es geht darum, aufeinander aufzupassen. Wir können gemeinsam schreiben, gemeinsam denken, aber auch das »Single Black Woman Syndrom« überwinden, die Einsamkeit schwarzer Frauen, über die wir nicht oft sprechen, dieses Leiden, das wir mit uns herumtragen, diese Traumata. Wie kann man es verbalisieren, wie kann man Worte, Bücher, Lieder, Rituale, Heilmittel entdecken? Und diese Entdeckung ist auch ein Weg für uns. Es ist ein Weg, den wir benennen können. Und dieses Benennen ist sehr wichtig: Wir sagen etwas, das der andere leugnet, und so entsteht eine Lücke, die zu ernsthaften Meinungsverschiedenheiten führt. Dann kommt eine Zeit, in der man anfängt, sich selbst zu hinterfragen! Wie kann es sein, dass etwas, das für mich so sichtbar, so greifbar ist, nicht auf den anderen übergeht? Wie ist es möglich, dass es eine so große Lücke gibt? Das ist es also, zu erkennen, dass es das gibt und dass es konkret ist und dass es einen Namen hat: das Gefühl, dass einem ein Schauer über den Rücken läuft, das hat einen Namen. Dieses Gefühl, allein im Raum zu sein, immer, das hat einen Namen. Dieses Gefühl, dass wir uns schämen, wenn der andere einen rassistischen Witz macht –obwohl nicht wir uns schämen sollten, sondern der andere –, das hat einen Namen.

»Im Theater oder bei Ausstellungen war ich die einzige schwarze Frau, nicht nur auf der Bühne, sondern auch hinter der Bühne.«

Isabél Zuaa: Es geht vom Offensichtlichsten bis zum Subtilsten: ins Theater zu gehen und sich nicht zu sehen, in ein Geschäft zu gehen und von Sicherheitskräften beobachtet zu werden, zu einem Casting zu gehen und dort gar nicht als Bewerberin erkannt zu werden …

Cleo Diára: Manchmal bekommt man ein Drehbuch, das voller Vorurteile ist, und man muss sich überlegen, wie man der Person, die es geschrieben hat, sagt, dass es nicht richtig ist. In unserem eigenen Stück muss ich das nicht erklären. Ich muss keine Pädagogin sein oder in die Verlegenheit kommen, mich zu fragen, ob ich über das Geschriebene sprechen soll oder nicht.    

Isabél Zuaa: Denn wir können nicht einfach nur Schauspielerinnen sein. Wir sind schwarze Schauspielerinnen und deshalb … 

Nádia Yracema:  … genauso Lehrerinnen, Pädagoginnen.    

Isabél Zuaa: Wir müssen lehren, wie man behandelt wird, und wir müssen die Leute auch irgendwie dazu bringen, über die Dinge, die sie schreiben, nachzudenken, aber ohne dass sie sich beleidigt fühlen. Es ist sehr komplex, weil wir oft nicht den Mut haben zu sagen: »Seht her, ihr haltet völlig rassistische und gewalttätige Konventionen über meinen Körper aufrecht und benutzt das als Witz, und das ist mir wirklich peinlich und verletzt mich.« Und das im Jahr 2020. Das ist es, worüber wir auch in »Aurora Negra« reden.  

Cleo Diára: Es ist ein harter Kampf, aber wir haben keine große Wahl. Wir müssen kämpfen, weil wir Menschen haben, die wir lieben, und wir wollen ihnen einen besseren Ort hinterlassen. So wie sie dafür gekämpft haben, dass ich jetzt meine Privilegien habe, werde ich dafür kämpfen, dass das Leben meiner Neffen besser wird. Ich will nicht, dass sie sich umgrundlegende Dinge sorgen müssen. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.    

Nádia Yracema: Die Tür wurde geöffnet, die Maschine setzt sich in Bewegung.    

Cleo Diára: Rassistische Äußerungen werden in der Demokratie immer akzeptabler, Rassisten haben in vielen Parlamenten eine Stimme. Wie kann es sein, dass in einer Gesellschaft, die pluralistisch und vielfältig ist, Menschen immer noch der Meinung sind, dass andere Körper nicht dazugehören? Woher nehmen diese Menschen die Legitimation, dies zu tun? Man muss bei der Bildung ansetzen.    

Nádia Yracema: Beginnen wir mit all den Geschichtsbüchern, die wir den Kindern in der vierten, fünften und sechsten Klasse geben. Wir sollten den Mut haben, sie neu zu schreiben.  

Isabél Zuaa: Man kann nicht »Gold, Elfenbein, Diamanten, Gewürze und Sklaven« in denselben Satz packen. Diese Menschen sind keine Sklaven, diese Menschen wurden jahrhundertelang auf schreckliche Weise versklavt und entmenschlicht! Von anderen, die nicht aufgebrochen sind, um etwas zu entdecken, sondern um auszubeuten! Das waren keine Eroberer, das waren Vergewaltiger und Unterdrücker! Ich fing an, diese Art von Erzählungen zu entmystifizieren, die auch mein Vater aufrechterhielt – weil sie ihm eingeimpft und beigebracht wurden. Als mir das klar wurde, wählte ich einen Weg, auf dem es kein Zurück mehr gab. Es ist ein Weg ohne Wiederkehr. Und das ist auch gut so!  

Cleo Diára: Wir müssen unsere Geschichte zurückgewinnen und sie wirklich kennenlernen, damit wir inmitten von so viel Unterdrückung und Nicht-Akzeptanz unseren Stolz finden können. Wir brauchen diese Ermächtigung, und sie kommt mehr und mehr aus dem Austausch, den wir untereinander und mit allen anderen führen. Wir wissen, dass es einen Ort gibt, der uns gehört, auch wenn man versucht, ihn abzuschotten. Ich glaube, wir bauen mit Aurora Negra einen Weg zu diesem Ort.

Nádia Yracema: Unser Stück ist eine kritische Reflexion über unsere Erfahrungen, über diese Gesellschaft, über die rassistische Struktur, aber es ist kein Stück mit Lösungen. Es spricht Dinge an, beleuchtet verschiedene Aspekte, aber hat keine Antwort. Wir sind daran interessiert zu verstehen, wie Kunst das Thema Rassismus aktualisieren kann, und wir wissen, dass ein neuer Aufbruch nötig ist.    

»Wenn ein Schwarzer etwas tut, repräsentiert er die anderen Schwarzen, ein Weißer aber nicht.«

Cleo Diára: Und es geht um uns. Es geht um diesen Ort, an dem wir sind, und wie wir ein Heim bewohnen können, das oft nicht einladend ist. Und es geht auch um unsere Vorfahren, denn es gibt diese Verbindung. Wir wissen, dass andere starke Frauen uns furchtlos den Weg geebnet haben, so dass es für uns heute viel einfacher ist. Und diese Frauen sind unser Bezugspunkt, sie haben uns auch gerettet! Es gibt also auch etwas zu feiern!    

Isabél Zuaa: Der Punkt ist, dass ein Schwarzer, wenn er etwas tut, die anderen Schwarzen repräsentiert, ein Weißer aber nicht. In guten und in schlechten Zeiten. Und das ist sehr komplex. Wir repräsentieren hier niemanden, wir repräsentieren keine Nation. Dies ist ein weiteres Vorurteil über unsere Existenz und unsere Wünsche. Repräsentation ist wichtig, ja, aber ich repräsentiere mich und meine Geschichte, und jeder repräsentiert sich selbst. Und vielleicht haben wir einfachere Wünsche: das Recht zu existieren, die Freiheit, über andere Dinge zu sprechen und über unsere Vielfältigkeit.

Cleo Diára: In unserem Stück geht es nicht um Rassismus, sondern um die Erfahrungen dreier schwarzer Frauen, die Künstlerinnen sind und bestimmte Dinge erlebt haben. Unsere Erfahrungen sind vielfältig und unterschiedlich, es geht nicht nur um Schmerz, sondern auch um Glück, Feiern, Zeremonien und Rituale, es geht um den Wunsch nach ganz einfachen Dingen, menschlich und künstlerisch. Wir wollen lachen, wir wollen Spaß haben, wir wollen tanzen. Ja, wir wollen reden, aber wir sind die Protagonistinnen und die Gastgeberinnendieses Ortes, dieses Augenblicks. Das sind wir. Und wir laden alle ein uns zuzuhören.

Isabél Zuaa: An einer Stelle des Stücks heißt es: »Eine glückliche schwarze Frau ist ein revolutionärer Akt«. Wir sprechen auch über unsere Familienstruktur, die uns die Möglichkeitund das Privileg gab, zu reisen, auf Studienaustausch zu gehen, Bücher zu kaufen, Urlaub zu machen. Unsere Mütter hatten das alles nicht, aber sie haben sehr ehrlich und sehr hart gekämpft, damit wir nicht das Gleiche durchmachen müssen wie sie. Wir wollen diese Frauen loben und betonen, wie wichtig das ist, was sie uns geschenkt haben.    

Nádia Yracema: Ich habe viel über das Ankündigungsplakat von »Aurora Negra« nachgedacht: drei schwarze Frauen an der Fassade des Nationaltheaters von Portugal. Es könnte vielleicht eine Einladung an andere Körper sein, das Theater zu betreten.    

Isabél Zuaa: In meiner Nachbarschaft gibt es jetzt viele Mädchen, die Schauspielerinnen werden wollen. Und die Tatsache, dass sie mich als Referenz sehen – jemanden, der Theater studiert hat und als Künstlerin arbeitet –, ist wunderbar für mich, weil ich diese Referenz nicht in der Nähe hatte. Und jetzt werden sie dieses Plakat sehen! Die letzte Szene in unserem Stück handelt von der Einfachheit und Würde dieses Traums.

Cleo Diára: Wir haben immer gesagt, dass wir die schwarze Frau mit allem, was sie hat, feiern wollen, und das ist es, was ich versuchen werde. Wir feiern unsere Mütter, die so viel dafür getan haben, dass wir freier sind, als sie es waren.    

»Skaten erinnert mich an Tanzen«

»Skaten erinnert mich an Tanzen«

von Mette Ingvartsen
Wie holt man den Tanz aus dem Tanzstudio? Die dänische Choreografin Mette Ingvartsen hat das Konzept der »durchlässigen Choreografie« entwickelt und macht soziale und politische Fragen zu den Bausteinen ihrer Produktionen. Hier erklärt sie, wie die Idee zu »Skatepark« entstand und was Skaten und Tanz gemeinsam haben.

– 16. April 2024

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»Vor ein paar Jahren saß ich in einem Skatepark im Zentrum von Brüssel. Als ich das Treiben dort beobachtete, wurde mir klar, wie unglaublich performativ dieser Ort war. Es handelte sich sowohl um einen Raum für virtuose physische Experimente als auch um einen gemeinsamen, öffentlichen Ort für interkulturelle Begegnungen zwischen Gemeinschaften.

Von meinem Platz aus konnte ich beobachten, wie junge Menschen unterschiedlichen Alters durch den Park glitten und immer wieder versuchten, spektakuläre Kunststücke zu vollführen. Ich sah Jungen, die auf Fahrrädern durch die Luft flogen oder schnell vorwärts strampelten, wobei nur ein Rad den Boden berührte. Ich starrte auf eine Gruppe von Mädchen im Teenageralter, die einen Tanz einstudierten, den sie mit einem Handy aufnahmen. Ich war überwältigt von ihrem Rhythmusgefühl, ihrem vollen Einsatz, aber auch von dem Spaß, den sie miteinander hatten, während sie ihren Tanz vor der Kamera perfektionierten.

Es fiel mir auf, wie extrem die körperliche Aktivität in diesem Park war. Ich war beeindruckt von der Ausdauer dieser jungen Menschen, die so hart an ihrem Erfolg arbeiteten. Es erinnerte mich an das Tanzen und daran, wie Körper von dem unstillbaren Wunsch angetrieben werden können, eine bestimmte Bewegung zu beherrschen. Ich war fasziniert von ihrer körperlichen Energie, aber auch von ihrer Fähigkeit, sich selbst zu koordinieren, und dem Respekt, der notwendig ist, um Unfälle in ihrem gemeinsamen Raum zu vermeiden.

In den folgenden Wochen kehrte ich immer wieder fasziniert in den Park zurück und entwickelte die Idee, dass ein Skatepark ein großartiger Raum und Kontext für eine Choreografie sein könnte. Mir schwebte eine extensive Form des Tanzes vor, die sowohl körperlich virtuos als auch gesellschaftlich relevant sein sollte. Ein konsequenter Versuch, einen Ort zu verstehen, an dem verschiedene Kulturen nebeneinander gedeihen, selbst in einer Zeit, in der unsere Gesellschaft darum kämpft, alle Arten von Ungleichheit und Diskriminierung zu überwinden.

Skatepark ist eine raumgreifende Aufführung für eine große Gruppe von Tänzer*innen und Skater*innen. Die feste Besetzung besteht aus zwölf Darsteller*innen im Alter zwischen 11 und 38 Jahren, mit denen ich zwölf Wochen lang probte, um den Kern der Choreografie zu erarbeiten. Zum Auftakt des Stücks stehen mehrere junge Skater*innen aus der Region auf der Bühne, die an jedem Aufführungsort rekrutiert werden. Die Idee dahinter ist, überall dort, wo das Stück aufgeführt wird, ein lokales Interesse zu schaffen und gleichzeitig neue Zuschauer*innen und Gemeinschaften zu erreichen, die normalerweise nicht ins Theater gehen würden.

Das Stück spielt in einem lebendigen Setting – einer Skateparkbühne, die von verschiedenen Einzelpersonen und kleinen Gruppen bevölkert wird. Die Choreografie basiert auf den Bewegungen und Verhaltensweisen, die man in einem typischen Skatepark beobachten kann: Skaten, Radfahren, große Sprünge durch die Luft, die Überwindung der Schwerkraft, aber auch Musik hören, reden, lachen, singen und tanzen. Diese parallelen Rhythmen werden moduliert, um den Fokus des Publikums von einem Geschehen zum anderen zu verlagern und eine kraftvolle Dichte von Energie und Bewegung zu schaffen.

Das Bühnenbild wurde in Zusammenarbeit mit Pierre Jambé und Antidote Skateparks entworfen, die über eine langjährige Erfahrung im Bau von Skateparks im öffentlichen Raum verfügen. Ziel war es, ein Bühnenbild zu schaffen, das funktionell auf das Skaten ausgerichtet ist und sich gleichzeitig an die frontale Ausrichtung einer Bühne anpasst. Die von Minna Tiikkainen geschaffene Beleuchtung ist so angelegt, dass sie die verschiedenen Stimmungenaufnimmt, die im Laufe der Show entstehen.

Skatepark steht für einen neuen Ansatz, den ich in meiner Arbeit entwickele und den ich »durchlässige Choreografie« nenne. Er ist das Ergebnis jahrelanger Forschung darüber, wie man choreografische Praktiken über das Tanzstudio hinaus erweitern kann, indem man körperliche, soziale und politische Fragen zu den Bausteinen einer choreografischen Arbeit macht. In diesem Stück wird die Choreografie von den folgenden Fragen geleitet: Um welche Art von körperlicher Freude geht es bei den Aktivitäten der Skater*innen? Welche Art von sozialem Raum wird durch ihre Bemühungen und ihre Ausdauer geschaffen? Wie können wir die interkulturellen Begegnungen verstehen, die in diesem öffentlichen Raum entstehen, und was können wir von dem Gefühl des Fließens und der Leichtigkeit lernen, das sie bestimmt? Der durchlässige Ansatz zielt darauf ab, Tanz als soziales Phänomen zu verstehen, und erkennt an, dass Bewegung nicht von der Welt, in der wir leben, abgekoppelt werden kann. Er umfasst mein Interesse an der Zusammenarbeit mit Gemeinschaften sowie mit Künstler*innen, die zwar keine formale Tanzausbildung haben, aber dennoch eine ausgeprägte Erfahrung mit virtuosen Bewegungsmustern aufweisen. Mein Ziel bei dieser Arbeit ist es, die Bühne selbst für Bewegungen aus dem wirklichen Leben durchlässig zu machen und den Tanz in einen Dialog mit konkreten sozialen Situationen zu bringen, die uns bewegen und – hoffentlich buchstäblich – von den Sitzen reißen.«

Von Mette Ingvartsen

(Auszug aus dem Programmheft zur Uraufführung von »Skatepark« am 13. April 2023 am Cndc im französischen Angers)

asphalt zeigt »Skatepark« am 19. Juli 2024 um 19:00 Uhr, am 20. Juli um 19:00 Uhr und am 21. Juli um 18:00 Uhr im D’haus Central. 

»Dazu war Literatur immer schon da«

»Dazu war Literatur immer schon da«

von Halyna Kruk
Die mehrfach preisgekrönte ukrainische Schriftstellerin und Poetin Halyna Kruk hat bei asphalt 2023 eine bewegende Festivalrede über den Stellenwert von Kunst und Literatur in Zeiten des Krieges gehalten. Wir dokumentieren ihre Rede im Wortlaut. Übersetzung aus dem Ukrainischen von Beatrix Kersten.

– 23. Juni 2023

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Halyna Kruk wurde 1974 in Lwiw geboren. Die mehrfach preisgekrönte Lyrikerin, Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin ist Autorin von fünf Gedichtbänden, einer Sammlung von Kurzgeschichten und mehreren Kinderbüchern. Ihre Werke wurden in mehr als dreißig Sprachen übersetzt und in verschiedenen Gedichtbänden, Zeitschriften und Anthologien in vielen Ländern veröffentlicht. Kruk war von 2017 bis 2019 Vizepräsidentin des ukrainischen PEN und hält eine Professur für Literaturwissenschaft an der Universität von Lwiw, wo sie europäische und ukrainische Barockliteratur lehrt.

 

 

 

»Vor einem Jahr habe ich die Eröffnungsrede zum Poesiefestival in der Akademie der Künste in Berlin mit den Worten beschlossen, es täte mir leid, dass Dichtung nicht tötet. Diese Rede wurde Programm. In viele Sprachen übersetzt, wurde sie in vielen Ländern verbreitet. Wo auch immer es mich danach hin verschlug, war mein Verlangen nach einer Dichtung, die tötet, Anlass für Gespräche und Interviews. Mein Bedauern darüber, dass Poesie kein Werkzeug der Strafe, noch nicht einmal ein Mittel zur Selbstverteidigung sein kann, wurde in den wohlhabenden europäischen Ländern überwiegend als etwas Bedrohliches wahrgenommen, etwas, das die Konventionen sprengt. Weil man doch in der zivilisierten Welt seit Generationen nach Kräften bemüht ist, sich Regeln und Gesetze für ein friedliches Zusammenleben zu geben und auf deren Einhaltung zu dringen, rote Linien zu ziehen, die im Sinne des Gemeinwohls nicht überschritten werden dürfen. Aggression wird nicht toleriert, Krieg hinter die Einfriedungen der europäischen Zukunft verwiesen, ja, vor die Tore der zivilisierten Welt.

Und plötzlich stellte sich heraus, dass dieses Verdrängen und Unter-den-Teppich-Kehren von Aggression nicht nur nicht funktioniert, sondern schlimmer noch – auch keine Unterscheidung mehr zulässt zwischen Aggressor und Opfer, sie beide gleichermaßen hinter die Grenzwälle verbannt, den, der angreift und den, der sich verteidigt. Siedelt man beides fernab jeder Normalität an und betrachtet es aus sicherer Distanz, hört man ab einem gewissen Punkt auf zu differenzieren, wer angefangen hat, und wem nichts anderes übrigblieb, was Ursache war und was Folge. Wenn Russland mit dem Begriff »Pazifizierung« operiert, klingt das für eine gebildete Person mit Lateinkenntnissen im kulturellem Background nach »Befriedung«, es klingt nach »Friedfertigkeit« und friedlicher Ruhe, nach etwas, das einen sanft einlullt wie der »Pazifische«Ozean und politisch so korrekt ist wie »Pazifismus.« Wir beurteilen andere immer gemäß unserer eigenen Weltwahrnehmung und anhand der Wegmarken unseres Wertesystems. Darum haben auch die Ukrainer bis zur letzten Minute nicht an einen umfassenden russischen Angriff geglaubt, weil sie den Maßstab ihres eigenen Landes, eines liberalen, demokratischen europäischen Landes anlegten, das die Logik und Aggressivität eines imperialen Eroberungskriegs nicht nachvollziehen kann.

Der europäische Pazifismus will in der russischen »Pazifizierung« etwas ihm Geistesverwandtes erkennen, sie als eine, zugegebenermaßen mit einem etwas brutalen, kolonialen Beigeschmack versehene Methode sehen, die aber doch zum hehren Ziel des Friedens führt. Der europäische Pazifismus will aus der Losung »Wir sind gegen Krieg« der im Zuge des Kriegs emigrierten Russen etwas Richtiges heraushören, für sich Anschlussfähiges darin entdecken, und erwartet ähnliche Aussagen auch von Ukrainern. Auf der Ebene der reinen Begrifflichkeit bin ich, wenn ich nicht erkläre, »gegen Krieg« zu sein, konsequenterweise »für Krieg«. Auf dieser Ebene wird ja nicht einbezogen, dass es, wenn die Ukraine »gegen Krieg« wäre, zwar keinen Krieg mehr gäbe, aber auch eben auch keine Ukraine. Krieg ist aber doch ein Schrecknis, das alles zerstört, was die Menschheit an Menschlichem aufzubieten hat, Psyche, Umwelt, Wirtschaftsbeziehungen, durchweg alles. Und so legt man uns nahe, doch lieber ein Abkommen zu erzielen, die andere Wange hinzuhalten, ein Auge ein Auge, einen Zahn einen Zahn sein zu lassen und aufzugeben, was Russland an ukrainischen Gebieten erobert hat und besetzt hält. Einer muss doch der Klügere sein, so sagt man uns.

Eine gute und menschliche Ermahnung ist das, die wir alle wohl mehr als einmal als Kinder von einer liebenden Mutter gehört haben, wenn wir etwas nicht mit unseren Geschwistern teilen wollten. Die Mutter Europa liebt uns beide gleichermaßen, sie versucht, leidenschaftslos und objektiv zu sein. Ihre Mutterliebe macht die Mutter Europa blind: Aggression und Draufgängertum gelten ihr als Willenskraft und Charisma, der Wunsch, sich Fremdes anzueignen als jugendlicher Übermut, der sich auswächst, und das Verletzen von Grenzen als natürliche Folge von Größe. Die Schablone der großen Familie, die über die vom Blut nicht nur einer Generation getränkte Landkarte Europas gelegt wird, erlaubt es nicht, die Schreckgespenster von Kolonialismus,Totalitarismus und Rassismus zu sehen. Sie weckt falsche Erwartungen bezüglich der Menschlichkeit, Vernünftigkeit und Vorhersehbarkeit von Verhaltensweisen. Und so kommt es, dass das, was wir Europäer nicht bereit sind zu sehen, wofür wir auch keine Instrumente haben, um es zu beschreiben, was wir nicht in unsere Vorstellungswelt einlassen – für uns eben auch nicht existiert.

Und so kam es, dass wir Ukrainer vor den Toren der Normalität gelandet sind, außerhalb der zivilisierten Welt, im Randbereich einer Geschichte, die kategorisch abstrakt und allgemein denkt, und der unsere Verluste als statistisch vernachlässigbares Material gelten. Die ganzen vergangenen 16 Monate werde ich das Gefühl nicht los, wir seien Kandidaten in einem grausam-blutrünstigen Reality-Show-Format, das nach allen Regeln der Kunst gescriptet wurde: Das Publikum wird bei der Stange gehalten, indem der Grad der Gewalt immer weiter in die Höhe geschraubt und die Palette der Challenges für die Ukrainer stets um neue Aspekte erweitert wird. Den Handlungsverlauf hält man unkalkulierbar, die Auflösung wird aufgespart bis zuletzt. Ein adrenalingesättigtes Spiel ums nackte Überleben ist das, spannend für den unbeteiligten Zuschauer, der hautnah dran ist am Opfer, sich gruseln kann angesichts der Szenerien des Todes oder deren Echtheit in Zweifel ziehen, etwas glauben oder nicht glauben, debattieren, spenden, wegschauen, sich fragen, ob es schon Zeit ist, »Stopp« zu sagen. Ach du meine Güte, wir haben versäumt, uns auf das »Stopp« zu einigen, es funktioniert ja gar nicht!

Krieg ist keine Storyline, die man zurück auf Anfang setzen und umbauen könnte, damit sie anders verläuft oder die Toten neue Leben bekommen. Krieg ist keine Reality Show, kein LAN-Game und ganz sicher kein zivilisatorisches Experiment. Eure Kultur hat sich angewöhnt, euch vor unangenehmen Dingen abzuschirmen. Eure Sozialen Medien lassen sich konfigurieren, um unschöne und heikle Inhalte vor euch zu verbergen, was eure Menschlichkeit intakt halten soll. Dabei werden Grausamkeit und Aggressivität auf dem Unterhaltungsmarkt weiterhin stark nachgefragt, sorgen sie doch für Nervenkitzel und Adrenalinkick, erlauben es dem menschlichen Tier, sich lebendig zu fühlen. Das Wesen der Gewalt und des Bösen treibt Forscher und Künstler um, zwingt sie dazu, in den Abgrund des Schreckens zu blicken. Aber das alles nur, solange es in sicherer Distanz verbleibt, hinter dem Plasma eines Bildschirms, in einer Vergangenheit, die sich ganz bestimmt nie wiederholt. Bis vor kurzem lebten auch wir in der Ukraine in einer Welt, in der Krieg als Teil der Kultur galt. Ein echter Krieg ist das niemals.

Seit Beginn der vollumfänglichen russischen Aggression befinden wir uns in jemandes diabolischem Spiel, in einer unumkehrbaren Zeit, einer Wirklichkeit, die nach völlig inhumanen Regeln verläuft. Wir sind tödlich verletzt, getroffen von einem stets monströseren und heimtückischeren Bösen. Auch wir wünschen uns, uns davon zu distanzieren, uns abgrenzen zu können von diesem Bösen, nicht mittun zu müssen, nicht einsteigen zu müssen auf dieses Spiel, uns hinter eine Linie zurückziehen, hinter der wir sicher sind. Aber es hat sich gezeigt, dass es eine solche Linie für uns nicht gibt. Pazifismus und Menschlichkeit können nicht machen, dass dieser Krieg nicht existiert. Sie können nicht verhindern, dass er uns tötet. Sie retten uns nicht vor dem Sterben unserer Kinder, bewahren uns nicht vor dem Ökozid der bewusst herbeigeführten, globalen Katastrophe des gesprengten Staudamms von Kachowka. Die Ereignisse überstürzen sich in unvorhersehbarer Weise und reißen immer größere Stücke der Realität mit sich. Ich möchte euch keine Angst einjagen, das ist nicht mein Genre. Doch wie schrieb einst der Barockdichter John Donne: „jede weggespülte Scholle / lässt Europa schrumpfen – niemand lebt als Insel.” Hemingway lässt Donnes Motiv der Glocke wieder aufleben. Seine Glocke ist eine in Kriegszeiten, die einem jeden von uns die Stunde schlägt.

Hegel verstieg sich seinerzeit in den »Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie« zu dem Gedanken, in jeder Generation müsse es einen Krieg geben, läutert Krieg doch unser Denken und rückt unsere Vorstellungen von der Welt gerade, gibt uns Impulse für Neues und erhält im Übrigen auch die logische Struktur unserer Welt aufrecht. Verlassen wir seine Welt des unpersönlichen Theoretisierens und wenden uns den konkreten Realitäten zu, lässt sich kaum bestreiten, dass Krieg in der Tat eine äußerst schmerzhafte Form der Reinigung und Austilgung toter Wahrheiten, leerer Begriffe, überlebter Ideen und falscher Werte ist. Ja, er macht sozialen Wandel dynamischer, doch um den hohen Preis tausendfachen Todes und millionenfacher Flucht. Wir können theoretisieren, solange wir uns in sicherem Abstand dazu befinden, solange kein Krieg uns betrifft, so lange keiner unserer Lieben in einem Krieg umkommt. Im Krieg, mittendrin, auf seinem Territorium, lässt sich nicht theoretisieren.

Als existenzielle Krise bringt Krieg den Menschen in Situationen, in denen eine Wahl getroffen werden muss, wobei ganz oft weder Zeit noch Gelegenheit ist, Optionen zu wägen oder nachzudenken oder sich auch nur von den Umständen zu distanzieren, um sie angemessen beurteilen zu können … Faktisch ist hier also die Rede von einer Wahl, ohne die Wahl zu haben. Als wir uns mit dem Krieg konfrontiert sahen, kamen viele Menschen zunächst nicht von ihren humanistischen Ideen los. Der Krieg aber stellte sich als durch und durch inhuman, grausam und ungerecht heraus. Für mich persönlich waren gerade die ersten Wochen von Krieg und Brutalität eine Zeit, in der ich überdachte, was ich von der Generation meiner Großeltern gelernt hatte, und begriff, dass die Geschichten über den Horror, den das sowjetische NKWD in den Jahren 1939 bis 1941 in der westlichen Ukraine angerichtet hatte, nicht aufgebauscht gewesen waren, wie man manchmal hätte meinen können. So revidieren wir unsere Vorstellungen von Krieg, oder aktualisieren sie im Gegenzug und entwickeln ein neues Verständnis unseres Wissens über die Vergangenheit. Was kann ein Mensch dem Krieg entgegensetzen – ein konkreter Mensch einer konkreten Bedrohung seines Lebens, einem konkreten Verlust eines nahen Menschen, seines Zuhauses, der gewohnten Lebensweise …?

Der effektivste Mechanismus, den die Zivilisation bisher ersonnen hat, um Menschen und Gesellschaften davon abzuhalten, Krieg zu führen, ist Kultur. Ihr Einfluss ist im Vergleich mit anderen hemmenden Faktoren natürlich unvergleichlich komplexer. Kultur wirkt im Rahmen nicht nur einer Generation und immer unter strengen Vorgaben – nämlich mit dem Ziel, Gewalt einzudämmen, Streitfälle friedlich und ohne hegemoniale Ansprüche, Usurpation oder Übergriffe auf fremdes Territorium zu lösen. Kultur trägt darum Verantwortung. Ich erinnere mich an die zahlreichen Diskussionen mit russischen Autoren früher, in denen ich mir den Vorwurf gefallen lassen musste, die ukrainische Literatur sei politisch zu engagiert, unsere Schriftsteller seien über alle Maßen ideologisiert und konzentrierten sich nicht auf die reine Kunst, sondern auf gesellschaftliche Dynamiken, die eine derartige Aufmerksamkeit doch gar nicht verdienten. Allerdings hat sich, wie wir begreifen mussten, diese russische Selbst-Eliminierung aus der Sphäre eines präventiven, humanen Einflusses auf die Gesellschaft sowie dem Prozess der selbstverständlichen Weiterverbreitung der entsprechenden Werte als fatal herausgestellt. Besonders für uns hat sie schreckliche Konsequenzen gezeitigt.

Die Kultur diente in der häufig staatenlosen Ukraine schon seit den frühesten Zeiten der Kyjiwer Rus als Forum, um staatsbürgerlichen Positionen Ausdruck zu verleihen. Die Mehrzahl der Autoren des ukrainischen Barock etwa wollte die Chance auf Erlösung oder Selbsttranszendenz nicht nur in der religiös-spirituellen Praxis des Menschen verortet sehen, sondern auch in seiner aktiven Unterstützung bürgerschaftlicher Dynamiken, der Übernahme eines gewissen Maßes von Verantwortung und einem angemessenen Handeln. Darum liegen uns von einem Hetman Masepa Gedichte vor, und gibt es Kosaken-Chroniken, deren Autoren die rein menschengemachte Dimension der Geschichte verstehen und veranschaulichen, dass du dich nicht selbst nicht retten kannst, ohne nicht auch gut für deine Mitmenschen zu sein. Ein gutes Beispiel dafür ist Hryhorij Skoworoda: Er lebte isoliert, aber in dem Bewusstsein, dass jeder und jede dem je eigenen moralischen Imperativ folgen muss.

Die nach Beginn der vollumfänglichen russischen Invasion in der Ukraine entstandene Lyrik ist nach meinem Empfinden vergleichsweise direkt, bar der künstlerischen Spielereien, ohne Allusionen, Metaphern oder andere poetische Schnörkel. Es ist eine Lyrik der emotionalen Tatsachen, die ganz bewusst eine simple, konkrete und eindeutige Sprache anstrebt. Sie hat etwas Dokumentarisches an sich, ist durchsichtig wie die Linse eines Objektivs, die ja auch die Aufmerksamkeit nicht auf sich selbst lenken will. Dennoch bleibt auch diese Lyrik in der Formensprache des poetischen Ausdrucks verankert, worin die Worte miteinander in Beziehung treten und mehr bedeuten, als in einem publizistischen oder einem Gesprächszusammenhang. Verantwortung und Gewicht der Worte haben zugenommen. Bei uns bringt jedes Wort sehr viel mit sich.

Für die umfangreichere Form der Prosa hingegen braucht es mehr Zeit und mehr Abstand zum Geschehen. Ein Roman oder eine Erzählung verlangen vom Autor, sich in das Material hineinzuvertiefen, bis er oder sie sich zu gegebener Zeit davon wieder lösen muss, wie von jeder beliebigen faktischen Realität auch, um sich dann dazu als zu einem künstlerischen Material verhalten zu können, das nicht mehr aufwühlt oder schmerzt, nichts triggert, das gemischt werden kann wie ein Deck Karten, um die Spielregeln festzulegen und die Jokerrollen zu verteilen. Solange deine aktuelle Realität aber derart intensiv und schmerzhaft ist, solange wirst du dich auch nicht von deinem Schmerz distanzieren oder dem mit einem »Stopp!« Einhalt gebieten können, was dich schier umbringt. Und solange kannst du auch keine gute Prosa schreiben. Die meisten Romanautoren sind derzeit dabei, bewusst oder unbewusst Material zu sammeln, indem sie sich Notizen machen, Tagebuch schreiben, die Dinge intensiv erleben und in Erinnerung bewahren. So mancher wirft sich unbewusst auch mit aller Kraft in den Strudel der Ereignisse, weil sich so wohl am besten erspüren und begreifen lässt, was gerade geschieht. Viele gehen dahin, wo es weh tut. Jeder Eindruck ist wertvoll. Doch um dieses Material zu verarbeiten und daraus ein stimmiges Kunstwerk »hervortanzen« zu lassen, mit einem durchdachten Plot, einer Riege von Figuren und einer kunstvoll arrangierten Konfliktdramaturgie braucht es innere Ressourcen. Unser Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis ist derzeit aber mit anderen Dingen besetzt. Mitten drin in diesem Krieg agieren wir auf der Ebene des Überlebens. Die Wirklichkeit zwingt uns konstant, auf Alarmsignale zu achten, uns auf plötzliche Lageveränderungen in unserer Umgebung wie im eigenen Gefühlshaushalt einzustellen und mit jeder Menge Situationen klarzukommen, für die es keine Blaupause gibt.

Es ist sehr schwer und meist unmöglich, gefühlsmäßig unberührt zu bleiben, wenn der Newsfeed wieder Informationen über hunderte von Toten oder heftigen Beschuss auswirft. Etwas Entsetzliches geschieht oder wir sehen uns ein traumatisierendes Video an, und schon haben wir den Ort in uns vergessen, von dem aus wir zuvor die Welt betrachtet haben, so dynamisch verändern wir uns. Große Prosa wird daher etwas für die Zukunft sein, wenn wir uns wieder konzentrieren und analysieren können, was uns da zugestoßen ist und wie wir uns dadurch verändert haben. Dann werden wir auf all unsere Überlegungen und all die Materialien zurückkommen, die derzeit an den Rändern unseres Bewusstseins und in den blinden Flecken unserer Erinnerung eingelagert sind.

In der Zeit zwischen 2014 und 2022 wurden in der Ukraine etliche literarische Arbeiten über den Krieg vorgelegt. Die Literatur verstärkte, was mediale Ressourcen an Inhalten vermittelten und fungierte häufig als Bekräftigung und Nachschärfung der Argumente. Es stimmt traurig, dass diese Kriegsliteratur bis auf wenige Ausnahmen im Westen kaum präsent ist. In der Ukraine war damals niemandem so recht klar, wie und in welchem Umfang dieser Krieg literarisch thematisiert werden konnte und sollte. In Schriftstellerkreisen bestanden gewisse Vorurteile gegen »Veteranenliteratur«, die angeblich unzureichend professionell war. Doch war es vielmehr so, dass sich die »professionelle« Literaturszene unzureichend für das Kriegsthema engagierte. Für Kriegslyrik fand man nur schwer einen Verlag oder ein Publikum, das sie wirklich verstand oder schätzte, diejenigen einmal ausgenommen, die in diesem Krieg gekämpft oder Freiwilligendienste geleistet hatten oder direkt davon betroffen gewesen waren. Heute ist das Kriegsthema auf tragische Weise in die Literatur eingebrochen. Der Krieg steht Millionen von Menschen vor Augen und hat alles, was wir aus der bisherigen Literatur und Kunst über Krieg zu wissen glaubten, entweder aktualisiert oder radikal in Frage gestellt.

Literatur kann nicht in einem Vakuum existieren. Weder wird sie ausschließlich für die Ewigkeit verfasst, noch kann sie nur nach Reinheit streben. Gesellschaftliche und politische Ereignisse, Kriege und historische Herausforderungen kann sie ebenso wenig ausblenden, wie die Wirklichkeit als solche. Vielmehr muss sich gerade die Literatur ins Getümmel stürzen, den Finger in die Wunde legen, dem einen Sinn geben, was einem nicht in den Kopf will und die Fragen beantworten, die zu stellen es schon des Mutes bedarf. Denn, wie sich herausgestellt hat, ist ein Krieg ein Prüfstein für Menschlichkeit und Authentizität. In Literatur und Kunst ebenso wie im persönlichen Wertekanon.

Mit Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges sahen sich viele von uns vor die Frage gestellt, was einem persönlich wichtig ist, wovon man sich auf keinen Fall lossagen würde, wo das Äußerste liegt, bis zu dem man gehen würde. Machen wir uns keine Illusionen – jeder hat seine eigene Werteskala, jede ihre eigenen Erfahrungen und Lebensumstände und nicht jeder versteht die Entscheidungen der anderen. Aber ausnahmslos alle von uns (sogar die, die die Ukraine sofort verlassen haben), haben die Auswirkungen des Krieges in irgendeiner Form am eigenen Leib erfahren. Manche hat er mehr, manche weniger einschneidend getroffen, aber vor uns allen liegt viel Arbeit, um dieses kollektive Trauma auf eine Erfahrungsebene zu überführen, auf der es nicht mehr wehtut, wo wir damit leben können und auch andere nicht retraumatisieren oder verletzen … Doch je traumatisierter wir werden, desto schwerer fällt es, unser Trauma zu erklären, umso weniger möchten wir darüber sprechen oder gar beweisen müssen, wie schwer oder schmerzhaft das Erlebte war und ist. Für Ausländer ist es viel leichter, die Menschen in Russland und ihre Probleme mit den Sanktionen zu verstehen (man kann nicht zu McDonalds gehen, kein iPhone kaufen und nicht in den Urlaub fliegen), als die hochgradig komplexen ukrainischen Erfahrungen nachzuvollziehen (wie das Begraben von Verwandten im Hof eines Wohnblocks, eine Massenvergewaltigung, die Grenzerfahrung der Folter und dergleichen mehr). Genau diese Erfahrungen zugänglich zu machen, damit sie über die literarische, filmische künstlerische Bearbeitung für andere nachvollziehbar sind – das kann nur die Kultur. Kunstwerke filtern aus schweren Erfahrungen die prägnanten Aspekte heraus. In einem einzigen, beredten künstlerischen Detail kann die ganze Wucht der Tragödie beschlossen sein und sich ein Weg in die Katharsis eröffnen.  

Das absolute, gesichtslos abstrakte Böse (oder auch Gute) gibt es nicht. Immer ist da eine menschliche Dimension. Immer ist eine bestimmte Person verantwortlich. Im Christentum wie auch in anderen Weltanschauungen vollzieht sich die Entscheidung zwischen Gut und Böse und der Kampf darum im Inneren des Menschen – ständig wieder, jede Sekunde neu. Jederzeit gilt es, wachsam zu sein und zu prüfen, ob man sich für das Gute entscheidet. Die in unserer Kultur verwirklichten Werte erinnern uns an die Möglichkeit dieser jeden Tag erneut zu treffenden Entscheidung. Wenn wir uns auf die Ebene der Abstraktion begeben, eine neutrale Position einnehmen, über die Situation erhaben sein und uns aus dem Konflikt oder der Konfrontation herausnehmen wollen, dann beanspruchen wir faktisch die Position Gottes oder den Standpunkt eines reinen moralischen Imperativs. Damit aber verlieren wir aber unseren ganz persönlichen inneren Zweikampf zwischen Gut und Böse. Jedes »das geht mich nichts an« erkennt das Recht des Stärkeren an und bedeutet ein Reinwaschen der Hände mit dem Verweis auf Hygienezwecke.

Krieg prüft die Literatur auf ihre Authentizität und zieht ihre Existenzberechtigung in Zweifel. Doch zeigt sich die Macht von Literatur gerade darin, dass sie dazu beiträgt, im Menschen das Menschliche zu erhalten und Menschen dabei zu helfen, zu widerstehen, sich dem Bösen zu widersetzen. Ihre Macht hat Literatur auch darin, den Verzweifelten ein Refugium zu sein und denjenigen eine Hoffnung, die mehr verloren haben, als sie an innerer Stärke aufbieten können. Literatur kann Heimstatt sein für jemanden, der sein Heim verloren hat, kann das Kreuz auf jemandes Grab sein, dessen Leichnam nie gefunden wurde, um bestattet zu werden. Sie kann ein Wunder bezeugen und Zeugenschaft für die ablegen, die nicht dabei waren. Diese Macht wächst der Literatur in Zeiten des Krieges von den Menschen zu, die den Krieg durchleben. Manchmal ist die künstlerische Antwort die einzig mögliche Art, sich zu einer Realität zu verhalten, die die Fundamente der nackten Existenz untergräbt.

Wie die meisten von uns, so kann auch ich mich zu diesem Krieg noch nicht wie zu einem beliebigen Material verhalten, kann ihn noch nicht von mir ablösen. Wir alle sind mittendrin in diesem Krieg, wir sind von ihm betroffen. Wir haben daher eine sehr subjektive und spezifische innere Optik, der es gerade eben so gelingt, festzuhalten, was sich abspielt. Momentan das Wichtigste für uns ist durchzukommen. Wir leben im Modus von Kampf und Überleben. Für künstlerische Distanz oder Reflexion nicht gerade der geeignetste Zustand. Es fällt schwer, ein Bild zu analysieren, das man nicht ganz, sondern nur in einem Ausschnitt sieht, schlaglichtartig, fragmentiert oder verwischt. Das menschliche Hirn macht sich daran, in diesem Bild nach Anzeichen für Normalität zu suchen, die Ausnahmesituation irgendwie zu ordnen. Weil es die einzige Möglichkeit ist zu überleben.

Gleichzeitig erlebe ich, wie unsere Literatur zu ganz primitiven, basalen Funktionen zurückkehrt. Es sind dies keine Funktionen des Ästhetischen, auch keine von Genuss oder Unterhaltung, sondern Formen des Gebets, der Beschwörung, des Fluchs, des Bekenntnisses oder Totengedenkens. Allesamt Phänomene und Funktionalitäten, die auch die ursprüngliche, synkretistische Poesie schon kannte. Was im Zuge der Weiterentwicklung von Gesellschaften und der Ausdifferenzierung von Kulturen atrophiert ist, kommt in Zeiten des Krieges wieder zum Vorschein. Die ukrainische Lyrik gewinnt in diesem Krieg eine unerwartete Stärke, die sie von Fundamentalem und Archetypischem sprechen lässt, über Tiefen des menschlichen Geistes und der menschlichen Existenz, in die professionelle Dichter schon lange keinen Fuß mehr zu setzen wagten.

Ich möchte auch noch erwähnen, dass die ukrainische Lyrik aktuell äußerst reich an Formen und Bildern ist und einen außergewöhnlichen Aufschwung erfährt. Alles, was die ukrainische Literatur derzeit hervorbringt, von den stärksten und qualitativ hochstehendsten Texten bis zum reinen, simplen, bekenntnishaften Aufschrei, bezeugt einzigartige Prozesse, die unser literarisches Schaffen auf Jahrzehnte hinaus prägen werden. Menschen, die noch niemals etwas Poetisches geschrieben haben, fangen jetzt zu dichten an, und oft sind gerade ihre Arbeiten besonders stark. Sie mögen sich fernab jeder ausgefeilten Formensprache bewegen und bloßes Bekenntnis sein, doch ihre Aufrichtigkeit und Spontaneität machen Schwächen und mangelnde Professionalität vergessen. Anhand dieser spontanen poetischen Formen wird man später einmal nachvollziehen können, wie sich Literatur im Allgemeinen und Lyrik im Besonderen in den außergewöhnlichen und schweren Zeiten eines Kriegs entwickeln.

Unsere Wirklichkeit stellt uns jetzt viel Material für die Fremd- und Selbstbeobachtung zur Verfügung, insbesondere dazu, wie sich Menschen in Kriegs- und Krisenzeiten verhalten. Krieg verändert den Menschen. Häufig in einer Weise, die nicht mehr rückgängig zu machen ist. Für mich persönlich steht die traumatische Qualität dessen, was wir gerade durchleben, im Vordergrund. Worte wirken in traumatische Erfahrungen direkt hinein, indem sie die Dinge beim Namen nennen. In der einen oder anderen Weise hat dieser Krieg jede und jeden von uns psychisch traumatisiert, ganz zu schweigen von denen, die er auch körperlich verletzt hat. Ein literarischer Text kann Wege aus dem Trauma aufzeigen.

Und so möchte ich mit einem Gedicht darüber schließen, was Literatur für mich ist, denn das letzte Wort soll der Poesie gehören.«

Kann ich die zwei Schritte noch gehen oder bleibe ich stehen hier –
über den in unnatürlicher Haltung verstreuten Leibern
über den klaffenden Löchern im Rost eines ausgebrannten Autos
von Geschossen zu groß, um jemand bestimmten zu töten.

Die Unwirtschaftlichkeit künstlerischer Ressourcen, die Welt wird nichts davon glauben.
Das Fehlen eines schlüssigen Motivs, erklär mir, warum sie euch töten, sagst du,
es muss doch einen Grund geben. Aus so einem Plot würde niemals ein Buch.
Solange es noch Literatur ist, besteht immer die Möglichkeit, rechtzeitig stehen zu bleiben,
nicht auf Tuchfühlung zu gehen, wo sich den Augen zu viel zeigen würde –
wie sie aussehen, der abgebrochene Nagel an der gepflegten Frauenhand,
der Kinderschuh unter den Überbleibseln eines Hausstands.

Literatur sollte doch dazu da sein, es gar nicht erst kommen zu lassen zu dem, was da geschah –
auf Prävention zu setzen, das Schlimmste zu verhindern, den zu verändern,
der Nichtwiedergutzumachendes anrichten könnte.

Sie ist doch gerade nicht dazu da, im Nachgang weiszumachen,
ein einsamer Kinderschuh hätte nichts mit einem Kinderfuß zu tun,
und der abgebrochene Nagel der Frau – sei eben ihr abgebrochener Nagel, kein großes Ding.

Rechtzeitig stehenbleiben, nicht zu nah rangehen, nicht hinsehen.
Rettende Distanz der Kunst, Leitplanke der Glaubhaftigkeit, bis zu der alles
noch weit hergeholter Plot sein kann, verbotene Ausgeburt einer Fantasie
​​​​​​​​​in Katastrophenstimmung.

Literatur ist nicht länger Fluchtroute, sie ist Abstellgleis,
von dort kommst du nirgendwo hin. Du steigst in den Zug, nimmst dir ein Buch vor –
und verstehst: Dieser Zug – fährt nicht an, fährt nicht zum Ziel, fährt nicht ein
da im Menschen, wo er noch Entscheidungen treffen kann –
abreisen für immer und nie mehr wiederkommen
oder die Notbremse ziehen und aufs Ganze gehen.

Einmal, bei Not am Mann, werdet ihr die Spur wieder aufleben lassen,
werdet die Rammböcke abbauen, euch gestatten hinzusehen.
In einer Welt, in der Literatur nicht dazu da ist, zu töten, und nicht dazu, Rechnungen
​​​​​​​​​​​zu begleichen,
und nicht dazu, mit Spam zu fluten, und nicht dazu, bis aufs Jota alles zu erinnern,
und nicht dazu, die Wirklichkeit in ihren abstoßendsten Formen zu fixieren.

So eine Literatur ist zu gar nichts da, hörst du.

Der Kinderschuh, der mitsamt Kind durch die Luft flog, als beide mit splitterndem Glas
​​​​​​​​und Beton verwirbelt wurden,
der abgebrochene Nagel an der Frauenhand unterm Schutt, unverpixelt das,
​​​​​​​​was vom Körper übrig blieb,
das Kinderbuch, das du anstarrst, um den Rest nicht wahrzunehmen,
dir den Rest nicht vorzustellen, der da war zwischen Buch und Hand,
zwischen dem Samstagmorgen einer Familie und dem nächsten Bild.

Gehst du zu nahe heran, durchbohrt dich der Bewehrungsstahl
mit jemandes ersticktem Schrei unterm Schutt
»Ich will nicht sterben«. Literatur ist dazu da, diesen Schutt rechtzeitig wegzuräumen.

Literatur ist dazu da, uns aufzuzeigen, wie wir weiterleben können,
mit diesem Schrei im Ohr, mit der Frauenhand, dem Kinderschuh in Nahaufnahme,
wissend, was dahinterstand in der unzensierten Version der Wirklichkeit,
die keine künstliche Intelligenz für uns weichzeichnet.

Dazu. Dazu war Literatur immer schon da.

 

»What can a trumpet do?«

»What can a trumpet do?«

Der US-amerikanische Trompeter Nate Wooley gilt als einer der führenden Köpfe der amerikanischen Bewegung zur Neudefinition der physischen Grenzen seines Instruments und hat für seine eigenwillige Trompetensprache internationale Anerkennung gefunden. Nicht nur in New York gilt er als einer der gefragtesten Trompeter in der Jazz-, Improvisations-, Noise- und Neue-Musik-Szene und ist vielfach preisgekrönt.

Beim asphalt Festival war er bereits mehrfach zu Gast, im Jahr 2023 kehrt er zurück für die Uraufführung von Bojan Vuletics Konzertinstallation »Sorry I can’t hear you over the sound of my freedom« am 23. Juni in der Sammlung Philara.

Komponist und Festivalleiter Bojan Vuletic hat sich mit Nate Wooley in seinem Studio getroffen. Es entspann sich ein Gespräch über Nates Zugang zu seinem Instrument, das von ihm herausgegebene Musikmagazin »Sound American« und über Kreativität im Allgemeinen.
– 22. Juni 2023

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Warum ist es so ruhig?

Warum ist es so ruhig?

Hoyerswerda, Rostock – Lichtenhagen, Mölln, Solingen, Düsseldorf, Kassel, Halle, Hanau.
Moment. Düsseldorf?
Stellen wir uns vor, wir lebten in einer Stadt, in der ein schwerer rechtsradikaler Bombenanschlag auf zwölf Menschen verübt wurde – einige davon jüdischen Glaubens – und kaum jemand erinnert sich daran. Das ist doch nicht möglich. Oder doch?
Von Juliane Hendes.
– 18. Juni 2023

Juliane Hendes ist Autorin und Dramaturgin und schreibt für Theater, Film und Hörspiel. In Rostock geboren und aufgewachsen, studierte sie in Leipzig Dramaturgie an der Hochschule für Musik und Theater und arbeitete anschließend am Düsseldorfer Schauspielhaus als Regieassistentin. Seit 2016 ist sie freie Autorin und Dramaturgin und arbeitete unter anderem an den Sophiensälen Berlin, dem Nationaltheater Mannheim, den Münchner Kammerspielen und dem Düsseldorfer Schauspielhaus. Als Autorin ist sie der freien Gruppe Pièrre.Vers assoziiert. Sie schrieb den Stücktext zu »Dunkeldorf« und frühere Produktionen des Theaterkollektivs. 2021 wurde sie mit dem Förderpreis der Stadt Düsseldorf für Darstellende Kunst ausgezeichnet.

»Dunkeldorf« wird beim asphalt 2023 uraufgeführt und in sieben Vorstellungen gezeigt, beim Düsseldorf Festival im September erfolgt die Wiederaufnahme. Wir danken dem antirassistischen Bildungsforum für die Nutzung seines Archivs, aus dem die abgebildeten Zeitungsausschnitte stammen.

Keine Namen, keine Erinnerung.
Am 27. Juli 2000 explodierte am S-Bahnhof Wehrhahn in Düsseldorf eine mit TNT gefüllte Bombe und verletzte zehn Menschen. Eine im fünften Monat schwangere Frau verlor ihr ungeborenes Kind. Die Ermittlungen der lokalen Polizei blieben lange ohne Ergebnis, und obwohl es schnell erste Hinweise auf einen im Viertel bekannten Neonazi gab und obwohl durch die Betroffenengruppe – bestehend aus Aussiedler:innen und sogenannten Kontigentflüchtlingen – ein rassistisches und antisemitisches Motiv nah lag, kam es erst nach achtzehn Jahren zu einem Gerichtsprozess gegen Ralf S., an dessen Ende sein Freispruch stand. Die Anschläge von Hanau, Solingen und Mölln sind zumindest zum Teil im Kollektivgedächtnis verankert. Vor allem zu den Jahrestagen wird umfangreich und bundesweit berichtet. Das gilt für den Anschlag von Düsseldorf nicht. Warum nicht? Weil niemand gestorben ist? Weil es zwar einen Angeklagten gab, aber nie jemand schuldig gesprochen wurde? Oder gibt es noch einen anderen Grund, warum der Vorfall nicht nur nicht ins bundesdeutsche Gedächtnis übergegangen ist, sondern nicht einmal wirklich ins Stadtgedächtnis?

Gesellschaftlicher Echoraum – Deutungshoheit.
Die Situation im Sommer 2000 kurz nach dem Anschlag war zunächst unübersichtlich. Die Stadt Düsseldorf sah sich vor eine große Herausforderung gestellt und die polizeilichen Ermittlungen waren nur ein Teil davon. Wie geht eine Stadt mit einem solch gewalttätigen Ereignis um? Rund um diese Frage entspann sich eine Debatte. Meinungen, Einordnungen, einander widersprechende Perspektiven auf solche Vorfälle begleiten immer den Kampf um die Deutungshoheit überGeschehenes. Es ist der Kampf darum, wie die Situation in Zukunft gewertet werden wird. Maßgeblich beeinflusst durch lokale und überregionale Journalist:innen, Politiker:innen, Behördenjeder Art und gesellschaftliche Akteur:innen – jeweils mit eigener Agenda. Öffentliche Verlautbarungen kreieren die Stimmung, in der die ermittelnden Behörden ihrer Aufgabe nachgehen. Sie beeinflussen die Meinungsbildung in unserer Gesellschaft, die sich wiederum auf gesellschaftliche Prozesse zum einen, und zum anderen auf zukünftig gewaltbereite Menschen auswirken kann. Und sie sind auch der Echoraum, in dem bestimmt wird, an was sich wie erinnert wird und an was eben nicht.

Die Öffentlichkeit spielt immer mit. – Das sind Sie und ich.
Ein Beispiel: In den 1990er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurden – vor dem Hintergrund des Jugoslawienkrieges und der dadurch ausgelösten Zuwanderung – in Deutschland durch demokratische Vertreter:innen (allen voran CDU/CSU und SPD) rechte Narrative aufgegriffen und Stimmung gemacht gegen Asylsuchende. »Schon wenige Wochen nach dem Pogrom in Hoyerswerda hatte der damalige CDU-Generalsekretär Volker Rühe in einem Brief alle Kreisverbände dazu aufgefordert, ›in den Gemeinde- und Stadträten, den Kreistagen und in den Länderparlamenten die Asylpolitik zum Thema zu machen‹. (…) Es folgten die bekannten Titelbilder von Spiegel, Bild und anderen Zeitungen mit Überschriften wie ›Das Boot ist voll‹, ›Ansturm der Armen‹ und so weiter«, schreibt Esther Dischereit für die Bundeszentrale für politische Bildung. Es ging vor allem um den Artikel 16a des Grundgesetzes: »Das Asylrecht hat in Deutschland als Grundrecht Verfassungsrang.« Die Debatte um den Artikel verschärfte die Stimmungslage im Land und führte u. a. zu dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen 1992, in dessen Nachgang dann das Asylrecht soweit verschärft wurde, dass man es gewissermaßen als abgeschafft begreifen konnte. Wohingegen die Täter:innen entweder ganz und gar straflos davon gekommen sind oder mit nur marginalen Strafen. »Das NSU-Kerntrio und seine Unterstützer:innen bezogen ihr Selbstbewusstsein aus diesem Erfahrungswissen der Straflosigkeit auch für schwerste Verbrechen. Und die in dieser Generation sozialisierten rechten Attentäter von heute – wie beispielsweise Frank Steffen, der im Oktober 2015 mit dem Attentat auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker ein politisches Zeichen gegen deren Flüchtlingspolitik setzen wollte, oder Stephan Ernst, der mutmaßliche Mörderdes Regierungspräsidenten von Kassel, Walter Lübcke – knüpfen ideologisch und bei der Wahl ihrer Aktionsformen unmittelbar an ihre Erfahrungen in den 1990er-Jahren an«, so Dischereit weiter. Die Stimmung beeinflusst nicht nur potentielle Täter:innen. Mitat Özdemir, Vorsitzender der Interessengemeinschaft Keupstraße, berichtete im Nachgang des vom NSU verübten Anschlags in Köln 2004: »Da sind Polizisten gekommen, begleitet von Journalisten, und haben nach den Tätern gefragt. Als wir antworteten: Neonazis, fragten sie weiter. Und wer könnte das sonst gewesen sein? Irgendwann sagten wir nur noch, was sie hören wollten.« Die einen haben danach darüberberichtet, die anderen sollten ermitteln. Es ist wie ein Perpetuum mobile: Die Art und Weise, wie mit solchen Taten umgegangen wird, hat Auswirkungen darauf, welche Taten in Zukunft passieren und wie dann wiederum damit umgegangen wird.


Politisch motivierte Straftaten. – Es geht um Aufmerksamkeit.

Terroranschläge werden – egal von welcher »Seite« sie verübt werden – zu medialen Großereignissen. Das Interesse ist riesig, es muss und soll schnell berichtet werden und für die Vertreter:innen aller politischen Ausrichtungen geht es darum, die eigene Meinung gewinnbringend in der öffentlichen Wahrnehmung zu platzieren. Es gleicht einer Schlacht, in der verschiedene Kräfte versuchen, die Meinungshoheit zu gewinnen. Dabei werden gerne politisch motivierte Straftaten von rechts und links gegeneinander ausgespielt. In der Logik der Anschläge muss allerdings unterschieden werden. Die radikale Linke verübt Attentate »gegen Menschen, von denen sie annimmt, dass es sich um besonders verhasste Vertreter des herrschenden Regimes handelt. (…) Ganz anders die Motive bei der terroristischen Rechten. Die Erfahrung der letzten dreißig Jahre zeigt, dass rechtsradikaler Bombenterror ungezielt eingesetzt wird, beliebige Opfer treffen soll. Die Attentate sollen die Ohnmacht des Staates erweisen, sie sollen den Ruf nach starken Männern anschwellen lassen, die im Gegensatz zu den demokratischen Institutionen fähig sind, die Bürger zu schützen. (…) Gezielter Terror gegen herausragende Vertreter des bekämpften Regimes oder ungezielter Terror mit der Absicht, allgemein Angst und Schrecken im Land zu verbreiten? Die Antwort beim Düsseldorfer Attentat sollte nicht schwer fallen«, schrieb Christian Semler am 29. Juli 2000 – also zwei Tage nach dem Anschlag in Düsseldorf – in der taz. FürSicherheitsbehörden spielt die sogenannte Hufeisentheorie traditionell eine wichtige Rolle. In Wissenschaft und Öffentlichkeit ist sie allerdings umstritten. Die Statistik des Bundeskriminalamts aus dem Mai 2023 zeigt folgendes: 23.493 Mal kam es im vergangenen Jahr zu politisch rechts motivierten Straftaten, 6.976 Mal zu links motivierten Straftaten. Während aber vermeintlich Linksradikale wie kürzlich Lina E. gezielt bekannte Rechtsextreme und Kriminelle angreifen und der Eindruck entsteht, gegen diese Verbrechen würde der Rechtsstaat wahrscheinlich zu Recht mit besonderer Härte durchgreifen – vor allem mit dem Vorwurf auf Gründung einer kriminellen Vereinigung –, war der Anschlag von Düsseldorf, genauso wie der von Hanau oder Halle, gegen eine spezifische Opfergruppe gerichtet, die in der Gesellschaft eine gefährdete Stellung als Minderheit einnimmt und in rechten Abwertungsideologien entmenschlicht werden soll. Bei diesen Taten greifen anscheinend andere Ermittlungsmechanismen.

Einzeltäter sind nicht allein.
Wenn Ermittlungen zu dem Ergebnis führen, dass es sich um einen rechtsradikalen Anschlag gehandelt hat, wird oft von einem »Einzeltäter« gesprochen. »Die Bezeichnung ›Einzeltäter‹ steht in diesen Fällen lediglich für die konkrete Tatplanung. Sie verneint nicht, dass die einschlägige Gewalt- und Ideologiefixierung der Täter Ursachen hat, dass ihre Taten Folge von Kommunikation und Interaktion mit Gleichgesinnten sein können und dass die Akteure sich angesichts zunehmender Fremdenfeindlichkeit in der Gesellschaft und des damit einhergehenden Diskurses motiviert fühlen«, schreibt Florian Hartleb, Politikwissenschaftler aus Passau mit Forschungsschwerpunkt Populismus, Rechtsextremismus und Linksextremismus. »Die meisten Rechtsextremen kommen gleichwohl aus einem extremistisch geprägten sozialen Umfeld. Sie sind Teil von rechten Kameradschaften, Hooligan-Milieus, rechten Parteien oder der Reichsbürgerbewegung«, konstatiert die Bundeszentrale für politische Bildung ergänzend. Von der Gründung einer kriminellen Vereinigung wird rund um diese Täter nicht gesprochen. In der öffentlichen Wahrnehmung spielte die durchaus sehr aktive rechte Szene Düsseldorfs in den 2000er-Jahren kaum eine Rolle. Und das, obwohl es zu diversen Vorfällen im Vorfeld des Anschlags kam.

Die KZ-Gedenkstätte Kemna in Wuppertal wurde am 9. Juli 2000 überfallen, am 14. Juni 2000 erschoss der Neonazi Michael Berger drei Polizist:innen in Dortmund und zwei Wochen vor dem Anschlag haben sieben sogenannte Skins der »Reichswehr«-Band einen Griechen und einen Afghanen auf Gleise geworfen. Trotzdem wurde die Szene klein geredet und ihre Aktionen bagatellisiert. Ein Jahr nach dem Anschlag »spekulierten die Ermittler, die Russenmafia könntedahinterstecken. Das sei ›eine Theorie, die man nicht einfach von der Hand weisen kann‹, so Johannes Mocken (2000 leitender Staatsanwalt; Anm. d. Verfasserin) im Juli 2001. Auch dem damaligen Oberbürgermeister Joachim Erwin (CDU) lag die Mafiatheorie ›gefühlsmäßig amnächsten‹«, schreibt Pascal Becker 2017 in der taz. Bis ins Jahr 2011 gingen viele davon aus, dass politisch rechts motivierte Anschläge mit einem Bekennerschreiben einhergehen müssen. Da dieses fehlte, könne es sich nicht um ein solches Verbrechen handeln. Erst die Enttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds zeigte deutlich, dass es auch ohne Bekennerschreiben und über mehr als ein Jahrzehnt lang möglich ist, unerkannt schwerste politische Straftaten zu begehen.

Eingeschränktes Sichtfeld.
Bis heute scheint es immer wieder zu Fehleinschätzungen der Behörden und Institutionen zu kommen, wenn es sich um rassistisch motivierte Taten handelt. »Die Schwierigkeit der eindeutigen Einordnung zeigte auch die Debatte um Tobias R., den Attentäter von Hanau. Der Präsident des Bundeskriminalamts, Holger Münch, sprach auf Grundlage erster Einschätzungen zunächst von einer offensichtlich ›schweren psychotischen Krankheit‹ – ein rechtsextremes Motiv war für das BKA laut ersten Medienberichten nicht erkennbar. Später folgte die Klarstellung: ›Das BKA bewertet die Tat als eindeutig rechtsextremistisch‹, teilte Münch mit«, schreibt Andreas Speit für die Bundeszentrale für politische Bildung. Durch die Bezeichnung »Einzeltäter« und der Unterstellung einer psychischen Krankheit werden gewalttätige Taten individualisiert und die gesellschaftliche Dimension ignoriert. Im Falle des Wehrhahn-Anschlags gab es nach ersten Ermittlungen zwar Hinweise auf die rechte Szene, genauer gesagt auf Ralf S., aber die Polizei konnte keine hinreichenden Beweise für seine Täterschaft ermitteln. Es gilt natürlich der Grundsatz im »Zweifel für den Angeklagten«. Und wenn es keine Beweise gibt, ist es folgerichtig, dass Ralf S. im Jahr 2000 nicht weiter juristisch verfolgt wurde. Aber Fragen drängen sich trotzdem auf: War es tatsächlich nicht möglich, ein:e Täter:in ausfindig zu machen? Wurden Fehler gemacht? Hat die Polizei wirklich alles in ihrer Macht Stehende getan? Die Zusammenfassung klingt jedenfalls so: Achtzehn Jahre nach der Tat wurde Ralf S. angeklagt, aber nach vierunddreißig Hauptverhandlungstagen wieder von allen Anklagepunkten freigesprochen. Er erhielt Anspruch auf Entschädigungszahlungen von Seiten des Gerichts für die entstandenen Umstände, die Betroffenen hingegen haben auch nach dreiundzwanzig Jahren keine Entschädigungszahlungen erhalten. Auch wenn es juristisch mit rechten Dingen zugegangen sein sollte – das Bedürfnis nach Gerechtigkeit kann dieser Status quo nicht erfüllen.

Aufstand der Anständigen und das Schweigen einer Stadt.
Nachdem es im Oktober 2000 in Düsseldorf erneut zu einem Anschlag kam, diesmal auf die Synagoge in der Zietenstraße, reagierte die Zivilgesellschaft massiv. Paul Spiegel, damals Präsident des Zentralrats der Juden, Gerhard Schröder und ein breites Bündnis in der Stadtgesellschaft mobilisierten die Menschen, die gemeinsam auf die Straße gingen und somit ein Zeichen gegen Rechts setzten. Der sogenannte »Aufstand der Anständigen« sollte klar machen, wo die Stadt sich positioniert. Und wo das Land. Schröder sagte, es sei »kein örtliches Ereignis, das geht die Bundesregierung an, weil es Deutschland angeht«. Also haben zwar die Behörden versagt, aber die Stadt und ihre Menschen haben eigentlich alles richtig gemacht? Nachdem alle Anständigen aufgestanden waren, haben sie sich wieder ihrem Alltag zugewendet. In dem Jahr nach der Tat hat die Stadt nicht geschwiegen. Aber je mehr Zeit verging, desto schweigsamer wurde sie. Bis der Anschlag in der Stadtgeschichte keine Rolle mehr spielte.

#Saytheirnames – Warum ist es so ruhig?
Das Vergessen der Stadt ist die eine Seite. Das Schweigen der Betroffenen die andere. Eine empirische Untersuchung des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung zeigt »dass Betroffene und Opfer von Anschlägen in der öffentlichen Debatte kaum zu Wort kommen. Dieses Muster zeigte sich sowohl nach islamistischen Anschlägen als auch nach rechtsextremistischen Anschlägen: In beiden Fällen stammten weniger als fünf Prozent der Aussagen von Opfern oder Betroffenen«. Die Initiative #saytheirnames kritisiert diesen Umstand. Der Hashtag wurde hierzulande vor allem von den Hinterbliebenen des Anschlags von Hanau etabliert, um dadurch – allerdings auch erst ein Jahr nach dem Anschlag – die Perspektive der Opfer in den Fokus zu rücken. Ihnen ist es auch zu verdanken, dass nicht nur der Anschlag von 2020 noch sehr präsent ist, sondern auch die Namen der Opfer ins Kollektivgedächtnis eingegangen sind. Funktioniert Erinnerung und Aufmerksamkeit also nur, wenn sich Betroffene und ihre Angehörigen angesichts kontinuierlicher Konfrontation mit ihrem Leid und der daraus resultierenden Retraumatisierung dafür engagieren und nicht nachlassen im Ermahnen, Erinnern und Fordern? Und in den Fällen, in denen sie nicht dafür bereit sind, unserer Gesellschaft diesen Dienst zu erweisen, geht die Erinnerung verloren? Unsere Gesellschaft hat keinen selbstauslösenden Mechanismus für solche Fälle. Wenn die Betroffenen nicht erinnern, wird nicht erinnert. In unserer Recherche zu »Dunkeldorf« haben wir – Regisseur Christof Seeger-Zurmühlen und Autorin Juliane Hendes – mit aller Sensibilität für die Umstände versucht, mit den Betroffenen des Wehrhahn-Anschlags ins Gespräch zu kommen, um ihre Wünsche und Anliegen zu berücksichtigen, ihre Perspektive in den Mittelpunkt zu stellen und unsere uneingeschränkte Solidarität zu verdeutlichen. Unsere Kontaktaufnahmen wurden abgelehnt mit dem Hinweis darauf, dass die Betroffenen – nach all den Jahren – nicht mehr daran interessiert sind, ständig mit ihrem Schicksal konfrontiert zu werden. Wir respektieren diesen Wunsch, denn es ist nicht die Aufgabe der Betroffenen ihr Leid zur Schau zu stellen, um unsere Gesellschaft daran zu erinnern, auf welche Werte wir uns mal geeinigt haben. Nicht sie sollten uns daran erinnern müssen, dass es gilt, rechte Tendenzen schon beim Aufkeimen zu verurteilen, ausgewachsener rechter Ideologie nicht einen Zentimeter Raum zu geben und dass es nötig ist, bedingungslos solidarisch zu sein. Nicht sie sollten uns sagen, dass jede:r Einzelne seinen Beitrag leisten muss. Das sollten wir alle tun. Immer.

Wir sind die Stadt.
Um ein angemessenes öffentliches Erinnern anzuregen, müssen Taten wie diese vollumfänglich aufgearbeitet werden. Aber es reicht nicht, nur den Ursachen im unmittelbaren Umfeld der Tat nachzugehen, es sollte auch nicht außer Acht gelassen werden, welchen bleibenden Einfluss die Gewalt und die daran anschließenden Debatten für das Selbstverständnis unserer Gesellschaft haben. Und welchen Beitrag die Zivilgesellschaft dabei leisten kann und muss. Für sie gilt es – genauso wie für öffentliche Institutionen und Behörden –, die Entwicklungen in unserer Demokratie zu verfolgen und durch öffentliche Stellungnahmen und zivilgesellschaftliches Engagement auf die Gesamtgemengelage einzuwirken. Das Engagement der Zivilgesellschaft ist die Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Die Menschen vor Ort gestalten maßgeblich das Zusammenleben in diesem Land. Wir sind die Stadt.

Körper der Macht

Körper der Macht

Anlässlich der Uraufführung von »Oasis de la Impunidad« im April 2022 an der Schaubühne Berlin im Rahmen des »Festival International Neue Dramatik« (FIND) führte der Schriftsteller Joseph Pearson ein Gespräch mit Regisseur Marco Layera und den Dramaturg:innen Elisa Leroy und Martín Valdés-Stauber über die Hintergründe der Produktion.
– 9. Juni 2023

Der kanadische Schriftsteller und promovierte Historiker Dr. Joseph Pearson gibt mit seinen englischsprachigen »Previews« ungewöhnliche Einblicke und Hintergrundinformationen zu ausgewählten Premieren und Produktionen des FIND an der Schaubühne Berlin. Vorliegender Artikel wurde erstmalig im April 2022 in »Pearson’s Preview« in englischer Sprache veröffentlicht. Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung des Autors, seinen Text in deutscher Übersetzung im asphalt-Echoraum zugänglich zu machen.

»Oasis de la Impunidad« ist beim asphalt Festival am 21., 22. und 23. Juni im Weltkunstzimmer zu sehen.

Eines der denkwürdigsten Stücke der FIND 2019, die noch vor der Pandemie stattfand, stammt vom chilenischen Teatro La Re-Sentida: »Paisajes para no colorear« (dt. »Landschaften, die man nicht bemalen darf«). Seine schonungslose Untersuchung von Femizid und geschlechtsspezifischer Gewalt wurde auf der Bühne von jungen chilenischen Frauen im Alter von 13 bis 18 Jahren vorgetragen. Die rohe Emotionalität ihrer Performance ging wie eine spürbare Schockwelle durch das Publikum.

Ein Mengendiagramm aus staatlichen Strukturen, Kapitalismus, Grenzgruppen, geschlechtsspezifischer Gewalt, sowie Körper und Bühne – das ist der Stoff, aus dem das Theater von Regisseur Marco Layera gemacht ist. Er kehrt dieses Jahr mit seiner vierten FIND-Produktion, die zugleich eine Weltpremiere ist, zurück: »Oasis de la Impunidad«. Das Stück ist eine Produktion des Teatro La Re-Sentida und der Münchner Kammerspiele – in Koproduktion mit der Schaubühne und Matucana 100. Außerdem sprach ich mit den Dramaturg:innen Elisa Leroy und Martín Valdés-Stauber, die sowohl in Chile als auch hier in Deutschland zusammengearbeitet haben.

Layera ist umgänglich und zurückhaltend, behält seine Ideen zunächst für sich, ehe er sie lebhaft und sehr wortgewandt artikuliert. Er erzählt voller Emotionen von »Paisajes para no colorear« als der »schönsten Theatererfahrung«, die er je gemacht habe: »Es war ein wichtiger Moment, künstlerische und soziale Praxis zu verbinden, eine Gemeinschaft zu schaffen, zu verändern und mit ihr in Beziehung zu treten.«

Nach der Fertigstellung dieses Theaterprojekts und seiner engen Zusammenarbeit mit jungen Menschen erlebte La Re-Sentida einen erschütternden politischen Moment in Chile, der am 18. Oktober 2019 begann. Dieses Ereignis wird als »Estallido Social«, als »sozialer Ausbruch« bezeichnet. Die Proteste begannen mit einer Reaktion auf etwas so Alltägliches wie die Erhöhung der Preise für den öffentlichen Nahverkehr in Santiago und weiteten sich aus, um das Abrutschen des Landes in Richtung Privatisierung und soziale Ungleichheit zu bekämpfen. Millionen Menschen gingen auf die Straße, und die Regierung reagierte brutal.


Layera erzählt: »Mit diesen Ereignissen ließ man in Chile die Maske fallen. Jeder zeigte, wer er wirklich war. Auch für mich als Künstler war das eine Herausforderung. Bei all diesem Aufruhr auf der Straße – der Körper auf der Straße als Protagonist – stellt man sich als Künstler die Frage: Was macht man jetzt? Die Rezepte und Strategien von früher wiederholen oder die Impulse, die Energie, die einen antreibt, nutzen? Aber selbst wenn wir bei den Ereignissen in Chile ansetzen würden, waren wir nie daran interessiert, das zu wiederholen, was auf der Straße passiert ist. Es wäre unmöglich, ja sogar ethisch verwerflich, es semiotisch oder semantisch zu reproduzieren. Da die Masken gefallen waren, schien bereits alles offen gesagt worden zu sein. Also haben wir versucht, eine eher konzeptionelle, abstrakte Arbeit zu machen, deren Kern der Körper ist.«

Die Ereignisse des »Estallido Social« werden international in Erinnerung bleiben, weil die chilenische Polizei, die »Carabineros«, sehr gewalttätig vorgegangen sind. Human Rights Watch berichtete später, dass zwischen dem 18. Oktober und dem 19. November 2019 etwa 9.000 Demonstranten verletzt und 15.000 festgenommen wurden. Durch den Einsatz von Schreckschusswaffen verloren viele ihr Augenlicht auf einem oder teilweise sogar beiden Augen. Es gab außerdem zahlreiche Berichte über sexuellen Missbrauch, Homophobie und Vergewaltigung während Inhaftierungen.

Marco Layera erzählt mir: »Von diesen Protesten hat ein Bühnenkollege noch die Überreste einer Kugel in seinem Bein. Meine linke Hand war gebrochen …«

Die Ereignisse weckten Erinnerungen an frühere brutale Übergriffe durch chilenische Offiziere während der Pinochet-Diktatur von 1973 bis 1990. Dies hatte in Chile eine Abrechnung zur Folge: Das Land stimmte für eine Verfassungsänderung und setzte eine neue Regierung ein, die seit März 2022 von dem Linken Gabriel Boric geführt wird.

Das Teatro La Re-Sentida wollte nicht nur auf die Erfahrungen seiner eigenen Künstler:innen zurückgreifen und rief zu einer offenen Ausschreibung auf. Von 500 Jugendlichen, die sich beworben hatten, nahmen 200 an einem Theaterlabor teil. Sie bestätigten die Feststellungen der Menschenrechtsbeobachter, dass die Gewalterfahrungen keine Einzelfälle waren, sondern vielmehr systemische, gängige Praxis. Layera erklärt: »Diese jungen Menschen waren die Protagonisten der sozialen Unruhen und 80 Prozent von ihnen hatten Polizeigewalt erlebt. Wir haben auch beobachtet, dass diese junge Generation die Polizeikräfte nicht mehr als legitime Vertreter der staatlichen Autorität wahrnahm. Die Polizei war für sie in einer Weise delegitimiert, wie es bei früheren Generationen nicht der Fall war. All dies hat damit zu tun, dass die Sicherheitskräfte, Militär und Polizei, nach der Diktatur nicht reformiert oder neu aufgestellt wurden. Sie blieben autoritär.«

Ein Bereich, der während des Workshops untersucht wurde, war die Frage, wie es möglich sein kann, dass demokratische Gesellschaften Institutionen beinhalten, die für die Ausübung von Gewalt verantwortlich sind. Layera erläutert: »Praktiken, die das Extrem der Barbarei darstellen, sind in demokratischen Strukturen enthalten, die Zivilität ausstrahlen. Bei einem Ereignis wie einem Protest manifestiert sich diese Barbarei unter dem Deckmantel der Zivilisation. Ich kann Ihnen ein Beispiel geben, das dies verdeutlicht: Ein Polizeibeamter, der bei einer Demonstration in der ersten Reihe steht, trägt eine Waffe. Alle Polizeibeamten sind verpflichtet, Namensschilder an ihrer Uniform zu tragen. Aber dieser Beamte hatte sein Namensschild ausgetauscht und sich in ›Superdick‹ umbenannt. Wie ist dieses Bild zu verstehen? Jemandem, der sich selbst als ›Superdick‹ bezeichnet, wird eine Rolle zugewiesen, die es ihm ermöglicht, mit uns Zivilisten zu machen, was er will.«

»Und dennoch, können Sie sich eine Gesellschaft ohne Rechtsdurchsetzung vorstellen?«, frage ich.

Layera antwortet: »Wir wissen, dass wir Polizeikräfte brauchen. Es gibt eine Beziehung zwischen diesem Bedürfnis und der Tatsache, dass sie auch Feinde sind, Teil einer Kultur der Angst und des Terrors. Jeder von uns fühlt sich terrorisiert, wenn sich ein Polizist nähert. Wenn sie dein Auto anhalten, weißt du, dass etwas Schlimmes passieren wird. Die Frage ist: Gibt es andere Praktiken, die eine Demokratie entwickeln kann, um diese Gewalt anders zu kanalisieren? Damit die Polizei nicht eine fremde Kaste ist? Im Moment ist die hegemoniale Männlichkeit der Maßstab für einen guten Polizeibeamten. Und die implizite Struktur der chilenischen Polizei – und ich würde sogar wagen zu sagen, der Polizei im Westen allgemein – ist rassistisch, klassenorientiert und patriarchalisch.«

Die Dramaturgin Elisa Leroy schließt sich diesen Beobachtungen an und beschreibt, wie sich dies auf der Bühne manifestiert: »Es ist sehr subtil, nur angedeutet. Alle Körper auf der Bühne, sowohl die weiblichen als auch die männlichen, verkörpern diese hegemoniale Maskulinität. Man sieht, wie sie danach streben, wie diese Idee präsent ist, aber auch, wie sie nicht genau mit den Körpern übereinstimmt und imaginär bleibt. Es ist eine anstrebende, beweihräuchernde Männlichkeit. Oder ein Training für eine Männlichkeit, die Macht über andere bedeutet.«

Der konzeptionelle und abstrakte Ansatz von La Re-Sentida basiert auf einer wundersamen Mimesis, aber nicht der Opfer der Straßengewalt, sondern einer Nachahmung der Täter: der Polizisten, einer Nachahmung, durch die wir uns, um es mit Layeras Worten zu sagen, »befreien, eine Katharsis finden und sogar die Sünden der Polizei sühnen können.«

Auf meine Frage, wie wichtig die Traditionen des zeitgenössischen Tanzes für die Inszenierung seien und wie wichtig es sei, eine neue Sprache für die Auseinandersetzung mit dem Thema zu finden, wird mir gesagt, dass es kein Zufall ist, dass zwei Tänzer am Set sind. Sie sind keine Vertreter des zeitgenössischen Tanzes: Einer ist ein Street-Dancer und der andere ein Show-Dancer.

Eine weitere fruchtbare Zusammenarbeit in der Produktion ist eindeutig die der verschiedenen Institutionen – sowohl der chilenischen als auch der deutschen – und ihre Kooperation, um diese internationale Premiere nach Berlin zu bringen, als Produzenten, die sich zu langjährigen Verbindungen bekennen und ihr künstlerisches Vertrauen ausdrücken, indem sie die Show dieser Kompanie produzieren und in ihr Programm aufnehmen.

Schließlich wendet sich Layera an mich und sagt: »Ich glaube, alle künstlerischen Prozesse sind transformativ. Jeder ist davon auf unterschiedliche Weise betroffen. Für mich war ›Paisajes para no colorear‹ sehr transformativ, aber auch hier gibt es eine Transformation. Dieses Werk ist auch eine Sühne, eine Wiedergutmachung. Ein sehr schmerzhaftes Werk. Es ruft einen anhaltenden Schmerz hervor. Wann wird dieser Schmerz verschwinden? Wann wird es in meinem Land Gerechtigkeit geben? Es gilt, eine Schuld zu begleichen.«

Keine geschlossene Welt

Keine geschlossene Welt

Regisseur Thorsten Lensing und sein Ensemble aus hochkarätigen Theater-, Film- und Fernsehschauspielern sind absolute Bühnenstars. Für die Produktion »Verrückt nach Trost« hat Lensing Dramaturgie und Bühnenbild bewusst in die Hände von Menschen gelegt, die nicht vom Theater kommen. Hier beschreibt der Autor und Herausgeber Dan Kolber, wie er die Theaterproben erlebt hat: wie sich Menschen in Tiere verwandeln, Erwachsene zu Kindern werden und die Zeit plötzlich langsamer zu vergehen scheint. 
– 31. Mai 2023

Wir veröffentlichen an dieser Stelle Auszüge aus dem Essay »Keine geschlossene Welt« von Dan Kolber, erschienen im Programmheft der Salzburger Festspiele 2022 anlässlich der dortigen Uraufführung von »Verrückt nach Trost«. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Dan Kolber.

asphalt hat »Verrückt nach Trost!« koproduziert. Das Stück ist im Rahmen des diesjährigen Festivals am 1. und 2. Juli im Großen Haus des Düsseldorfer Schauspielhauses zu sehen.
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Wenn ein Mensch zum Affen wird, wird die Ordnung der Zeit aufgehoben. Die Evolutionsgeschichte der Menschheit, die auf ihre immer größere Vereinzelung abzielt, erleidet einen Kurzschluss. Eine Entwicklung, die sich über einen Zeitraum von Millionen von Jahren erstreckt, wird in einem Augenblick mit einer Verwandlung aufgelöst.

Das Theater von Thorsten Lensing ist ein Theater der Unmittelbarkeit. Es geht nie nur um Chaos, nie nur um Spaß, nie nur um Genauigkeit, nie nur um menschliche Abgründe, sondern immer um Gegenwart. Dass sie zu retten ist, weil in ihr die Menschen und Dinge frei werden, ist eine der zentralen Erfahrungen, die man in seinen Inszenierungen macht.

Ich selber komme nicht vom Theater, auch die Architekten Gordian Blumenthal und Ramun Capaul haben vor ihrer Zusammenarbeit mit Thorsten Lensing noch nie ein Bühnenbild entworfen. Das ist nicht überraschend: »Keine geschlossene Welt, bitte«, ist die immer wiederkehrende Wunschformel dieses Regisseurs.

Die Theaterproben zu diesem Stück waren meine ersten. Ich sah die Verwandlung von Menschen in Schildkröte und Affe. Ich durfte erleben, wie Ursina Lardi und Devid Striesow immer jünger wurden. Als sie zu Beginn der Proben in die Rollen der Geschwister Felix und Charlotte schlüpften, war vieles schon da, was die Zuschauerinnen und Zuschauer auch heute während des ersten Teils des Abends sehen. Aber das Alter wich erst langsam aus ihnen, Schritt für Schritt und in unerwarteten Sprüngen. Plötzlich standen Dreißigjährige vor uns und spielten die erste Szene, dann wurden sie zwanzig, siebzehn, fünfzehn Jahre alt. Gegen Ende kurz vor der Premiere saß Devid Striesow als Elfjähriger am Boden, die Hände vor sich mit dem fransigen Ende seines Badetuches spielend. Er saß da als Felix und erinnerte sich in vollkommen durchlässigen Worten an Sätze des verstorbenen Vaters, an Sätze, die nun in seinem Mund ein so eigentümliches Gewicht angenommen hatten, dass sie weder schwer zu Boden fielen noch sich leicht in die Luft erhoben, sondern geradeaus in gleichmäßigem Schweben die Vergangenheit in die Gegenwart holten. Selten erlebt man auf eine so eindringliche Weise, dass wir Sätze in uns tragen, die in Wahrheit Zeitkapseln sind. Zeitkapseln, in denen der Moment aufbewahrt wird, da ein bestimmter Mensch sie mit seiner unverwechselbaren Stimme zu uns sprach.

Erinnerung und Unmittelbarkeit, beides gehört wesentlich zum Theater. Mit dem Unsichtbaren leben, Abwesendes in die Gegenwart ziehen, durch Spiel die Gegenwart beleben und sie gleichzeitig aufsprengen, das sind Grundmotive von »Verrückt nach Trost«. Und es ist daran nichts Neues. Es gehört zum Ältesten der Menschheit. Die Lust, sich zu verwandeln, und die Wichtigkeit der Verwandlung spiegeln sich in den ältesten Mythen und Ritualen.

Charlotte und Felix spielen am Strand ihre toten Eltern. Sie ahmen sie nach mit der Genauigkeit des kindlichen Blicks für die Eigenheiten der Eltern und mit einer ausgeprägten Lust an der überspitzten Übertreibung. Wenn sie sie spielen, sind sie so sehr bei den Eltern, dass sie deren Abwesenheit vergessen. Sie leihen ihnen ihren Atem, ihre Körper, damit Vater und Mutter durch sie in die Wirklichkeit zurückkehren. Es gibt keine Einsamkeit mehr. Nicht nur sind die Eltern da, nicht nur sind die Kinder selbst die Eltern, sondern: Dadurch, dass sie die sinnliche Nähe nachahmen können, die zwischen Vater und Mutter bestand, finden auch Charlotte und Felix wieder näher zueinander. Wenn Ursina Lardi am Boden liegt und Tränen weint vor Lachen, während Devid Striesow sie auskitzelt, dann kriegt man einen Eindruck davon, wie sehr dieses Spiel mit der Vergangenheit aufgeht in einem kurzen, flüchtigen Augenblick unbelasteten Glücks. Plötzlich hört man das Lachen der Mutter aus Charlottes Mund. Die Geschwister toben sich in der Erinnerung an Vater und Mutter aus, geraten in eine Ausgelassenheit, die die damalige Ausgelassenheit der Eltern ist. Die Freude der Eltern wird zur Freude der Kinder. Es ist dies die konkreteste Art und Weise, um gegen den Strom der Zeit zu schwimmen. Es ist eine Wiederauferstehung aus Liebe.

Es ist darum umso schmerzhafter zu sehen, wie das Spiel sich in Erinnerung auflöst und zu Ende geht. Es ist etwas anderes, Vergangenheit nachzuspielen, als sich ihrer zu erinnern. In der Erinnerung weiß man, dass der gegenwärtige Augenblick von dem erinnerten für immer getrennt ist. Wenn man spielt, treten Erinnerung und Gegenwart in eins und man kann den Verlust vergessen. In dem Moment, in dem Charlotte als Mutter das Kind – also sich selbst – auf den Schoß nimmt, fühlen wir jedoch, dass sich etwas verändert. Charlotte will aus dem Spiel heraustreten und sie tut dies, indem sie sich von Felix löst. Statt gemeinsame Erinnerungen zu spielen, begibt sie sich immer mehr in ganz persönliche Erinnerungen hinein, Momente der höchsten Intimität zwischen ihr und der Mutter. Aus dem Spiel heraus gleitet Charlotte langsam in die Erinnerung ab, als würde sie die Gegenwart verlassen. Sie spielt nicht mehr die Mutter, sondern hört deren Stimme in ihrem Inneren. Es ist der Augenblick, in dem die Eltern nicht mehr gespielt, sondern als erinnerte Menschen auf der Bühne präsent werden. Galt im Spiel die Regel, dass Vergangenheit und Gegenwart eins waren, so treten die Zeitdimensionen nun wieder auseinander. Das Vergangene ist vergangen, die beiden Kinder sind allein zurückgelassen, die Eltern Erinnerungsmomente in ihnen. Hier wird der Quell gezeigt, aus dem das ganze vorherige Spiel aufgestiegen ist und in den es wieder mündet: die Erinnerung.

Indem Charlotte aus dem Spiel aussteigen will und sich von Felix lossagt, verwandelt sie sich in einen Oktopus. Sie kappt den Bezug zur Vergangenheit, wirft sich mit ihrer geballten Energie und Lebenslust in die Gegenwart.

Die Idee, die Figur der Charlotte als Oktopus weiterzuerzählen, ist nicht das Resultat einer vorher erdachten, begrifflichen Logik, es ist vielmehr der Nachhall des Eindrucks, den die Figur auf uns gemacht hat. Ihr Bedürfnis, allein klarzukommen, das Ungestüme und Vielfältige ihrer Energie wirkten letztendlich so, als strebe sie diese Metamorphose an. Die Verwandlung ist für sie das Naheliegende, aber gleichzeitig der Weg in die Ausweglosigkeit.

Die Dramaturgie des ersten Teils ist eine der Plötzlichkeit. Alles findet an einem Ort statt, der weit, offen und nicht kontrollierbar ist. Die Figuren sind so unberechenbar und unübersehbar wie das Meer, aus dem sie kommen. Sie sind keine Gefangenen unseres Wahrnehmungsvermögens. Dieses muss eher versuchen, ihrer Lebendigkeit zu folgen. Es gibt daher im ersten Teil keine durchgehende, einheitliche Realitätsebene. Alles erscheint in den glühenden, intensiven, grellen Farbtönen der Kindheit.

Eines Tages während der Proben, wir waren im Grunde schon fertig und einige waren schon nach Hause gegangen, verwandelte André Jung sich das erste Mal in einen Affen. Es war die längste Verwandlung, die ich miterlebt habe. Sie dauerte mindestens zwanzig Minuten. Sie begann außerhalb unseres Blickfelds, in unserem Rücken, und kam unerwartet. Wir hatten alle schon darauf gewartet, wann es passieren würde, wann er uns seinen Orang-Utan zeigen würde. Darüber gesprochen aber wurde nicht, den Moment wählte er.

Die Stille war augenblicklich, die Atmosphäre im ganzen Raum – es war ein weiter, hoher Probensaal – war schlagartig eine andere. Vielleicht lag es daran, dass jeder unwillkürlich langsamer atmete. Ich verlor damals jedes Zeitgefühl. Die Zeit des Affen ist eine andere Zeit als die des Menschen: Meine biologische Uhr – von der Zeit der Stunden, Minuten und Sekunden gar nicht zu reden – war auf einmal nicht mehr die dominante, die einzige im Raum. Plötzlich wurden wir alle berührt vom Zeitrhythmus des Affen. Diese andere Zeit im Raum war vielleicht das erste klar erkennbare Zeichen der Verwandlung. Dasselbe Phänomen habe ich später bei anderen Verwandlungen wiedererkannt. Wir Menschen verfügen offensichtlich über ein Organ, mit dem wir die Zeit anderer Lebewesen unbewusst aufnehmen und in uns speichern. Es ist das Erstaunliche an diesen Schauspielerinnen und Schauspielern, dass sie offensichtlich diese verschiedenen Zeiten in sich tragen und gezielt darauf zurückgreifen können.

Als der Orang-Utan dann in unser Blickfeld kam und man ihn das erste Mal in Gänze sah, entstand ein ungeheures Spannungsfeld. Das Realitätsgefühl sackte kurz weg. Es war wie bei einem Vexierbild. Jede Bewegung seiner Arme oder Finger, die ganze Haltung seines Körpers folgte einer Logik, die uns aus diesem Wesen plötzlich entgegenblickte und die keine menschliche mehr war. In keiner Sekunde während dieses Vorgangs fand eine Kommunikation mit André Jung statt, die man selbst verstand. Ich wäre auch nie auf die Idee gekommen, ihn anzusprechen. Wir waren gebannt von der Aura dieses fremden Wesens und wollten sehen und verstehen, was der Affe als nächstes tun würde.

Devid Striesow saß nicht weit entfernt auf dem Boden, denn letztlich war er es ja, Felix, der den Affen träumte. Es war nicht leicht für ihn, mit André Jung umzugehen. Der Orang-Utan war wild und nicht domestiziert. Nach und nach jedoch wich die Anspannung, sie wurden einander vertrauter. Und als André Jung dann seine zart und gleichzeitig dumpf geneigte Hand zu Devid Striesows Nacken führte und mit seinem gekrümmten Finger zaghaft und doch präzise an dessen Haaren und an seiner Haut spielte, verstanden wir etwas über die Ursprünge unserer Zärtlichkeit und ihre fünf Millionen Jahre alte Geschichte.

Auch bei Sebastian Blomberg war die erste Verwandlung ein besonderes Ereignis. Er verwandelte sich in eine Schildkröte. Als ich diese das erste Mal sah, war ich fasziniert von so viel zärtlicher Langsamkeit. Wie kann ein Mensch sich so entschleunigen?

Aufregend war immer, was die Tiere sahen. Tiere sehen nie das, was die Menschen sehen. Sie haben ganz andere Interessen. Sebastian Blomberg sah in der Tat nie höher als eine Schildkröte. Er sah die Welt von unten: keine Menschen mehr, nur Beine. Man spürte, dass er unmöglich unsere Gesichter sehen konnte. Man bemerkt als Mensch sofort, wenn man nicht mehr gesehen wird. Menschen schauen einander an; die Blicke können wir meistens lesen, fühlen tun wir sie immer. Ich wusste, dass ich mit Tieren im Raum war, als ich spürte, dass ich von manchen Wesen nicht mehr gesehen wurde.

Die Tiere in diesem Stück sind keine Symbole, sie sind vielmehr ein Versuch, der Komplexität der Welt gerecht zu werden ohne Reduktion, ein Abwehrreflex gegen die Neigung, den Menschen in einem leeren Raum zu platzieren und mit Begriffen zu sezieren.  Es ist eine Rebellion gegen die Vereinsamung des Menschen, gegen seine Herauslösung aus der Umwelt.

In den Proben wurde das Lachen zu einer wichtigen Kommunikationsform. Die Präzision in der Wiedergabe der Welt wurde durch Freude und Empathie erzeugt. Es war die Freude darüber, dass das, was man sah, fast immer noch um einiges besser war als das, was man sich erhofft hatte. Das Lachen reagierte auf jedes Detail und bestärkte die Schauspielerinnen und Schauspieler in ihren Erkundungen, ohne sie jemals aus der Unmittelbarkeit ihres Spiels herauszunehmen. Die Komik in »Verrückt nach Trost« ist nicht allein Ausdruck von Freude. Sie ist auch eine Art und Weise, mit der eigenen Ohnmacht umzugehen, ein Versuch, sich der Erfahrung zu stellen, dass es Dinge im Leben gibt, die man nicht ändern kann. Sie ist eine Notwehr gegen das Unabänderliche.

Die zweite Hälfte des Abends beginnt wie die erste mit sinnlicher Nähe. Wir sehen die körperliche Vereinigung zweier Männer. Sie sind eng umschlungen und doch sehr weit voneinander entfernt. Neugier und Interesse führen jedoch im Verlauf ihres Gespräches zu Vertrauen. Ob das Vertrauen zu wahrhafter Nähe führt und Felix am Ende weniger einsam ist, bleibt offen.

In der letzten Szene sehen wir Charlotte kurz vor ihrem Tod. Im Altenheim feiert sie ihren 88. Geburtstag zusammen mit einem Pflegeroboter. Der Roboter weiß genau, was er ihr schenken muss. Er hilft Charlotte zu einer Selbstverständlichkeit sich selbst gegenüber, die sie fast ganz verloren hatte. Ihn verstört nichts. Mitten im Gespräch fängt sie an zu jodeln. Er jodelt mit und trifft genau die Töne, die in ihr Glücksgefühle auslösen. Die Spannung und Unausgeglichenheit ihres ganzen Lebens löst sich vor unseren Augen auf.

Was mit Fußballträumen passiert, wenn sie sterben

Was mit Fußballträumen passiert, wenn sie sterben

Wenn Menschen ihre Heimat verlassen und sich nach Europa aufmachen, bedeutet das einen radikalen Bruch in ihrer Lebensgeschichte. Freunde und Familien bleiben zurück, früher ausgeübte Berufe werden aufgegeben, Träume ändern sich. Auch das Leben von Junior, Lateef und Aloys aus Westafrika hat eine einzigartige Wendung genommen. Ihr Plan, in Europa Profifußball zu spielen, endete auf der Theaterbühne – als Mitglieder der Star Boys, einem Performance-Kollektiv aus Antwerpen. 
– 23. Mai 2023
von Chika Unigwe

Der Originaltext des nigerianischen Autors Chika Unigwe wurde in englischer Sprache auf der Website africasacountry.com veröffentlicht. 

Die jüngste Performance von Ahil Ratnamohan und dem Star Boy Collective, Reverse Colonialism!, ist beim asphalt Festival 2023 am 24. und 25. Juni im Weltkunstzimmer zu sehen.

Als der iranisch-niederländische Schriftsteller Kader Abdolah zum ersten Mal einem anderen iranischen Einwanderer gegenüber erwähnte, dass er in den Niederlanden Schriftsteller werden wolle, sagte sein Landsmann zu ihm: »Dein Traum ist groß, aber dieses Land ist klein.« Ein Nigerianer hätte ihm gesagt: »Schneide deinen Mantel nach deinem Stoff.«

Eine der häufigsten Erzählungen von Einwander:innen – insbesondere wenn ihre Reise sie aus dem globalen Süden in den globalen Norden führt – ist die von aufgegebenen Träumen und aufgegebenen Leben. Menschen, die ihr früheres Leben als Architekt:innen, Banker:innen, Ärzt:innen, Ingenieur:innen und Lehrer:innen aufgeben müssen, um in einem neuen Land als Putzfrauen, Arbeiter und Pflegerinnen neu anzufangen. Menschen, die manchmal ihre alten Identitäten aufgeben müssen, um eine neue Chance zu bekommen; Menschen, die Geschichten für Einwanderungsbeamte liefern, die eine Heirat aus Liebe gegen eine Vernunftehe eintauschen. Menschen, die wissen, was es heißt, Träume zu verändern, Träume einzudämmen und sie manchmal aufzugeben. Und wenn sie Glück haben und hartnäckig bleiben, gelingt es ihnen eines Tages, diese Träume wieder aufleben zu lassen. Aber das Problem bei der Wiederauferstehung ist, dass alles, was aufersteht, wahrscheinlich seine Form ändert.

Für die Star Boys, ein westafrikanisches Performance-Kollektiv mit Sitz im belgischen Antwerpen, wurde der Traum, in Europa Profifußball zu spielen, durch eine ungewöhnliche Form wiederbelebt: durch das Theater. Das Star Boy Collective entstand aus einem Projekt des sri-lankisch-australischen Theatermachers Ahilan Ratnamohan. Er wollte 2013 ein Tanztheaterstück mit in Belgien lebenden afrikanischen Fußballern entwickeln, das sich mit dem Phänomen des Menschenschmuggels im Fußball beschäftigt. Gegen das Versprechen von Verpflegung und 30 Euro pro Sitzung (drei Stunden Probe) rekrutierte Ahil seine ersten Schauspieler. Elf kamen zum Vorsprechen, acht schafften es und standen im späteren Erfolgsstück »Michael Essien I want to play as you« auf der Bühne. In den folgenden Jahren spielten insgesamt zwölf bei Aufführungen in Belgien, den Niederlanden, Deutschland, der Schweiz und dem Vereinigten Königreich mit. Die Besetzung rotiert, ähnlich wie bei einer Fußballmannschaft, ein Spiegelbild ihrer unsicheren Situation, in der Gerichtsverfahren, Abschiebungen oder unterzeichnete Arbeitsverträge zur Folge haben, dass Ahil sich nicht darauf verlassen kann, dass ein Darsteller auf der Bühne steht, bis er ihn am Abend tatsächlich dort stehen sieht.

Von den fünfzehn Fußballern, mit denen Ahil gearbeitet hat, wurden drei abgeschoben, und einer hat es über einen Drittligisten in Portugal zu einem hochdotierten Vertrag bei einem der Topklubs in Angola gebracht. Die übrigen führen ein Leben zwischen Träumen, Hoffnungen und der Realität. Ich habe Etuwe Bright Junior, Lateef Babatunde und Aloys Kwaakum getroffen, drei der Star Boys, die in Belgien geblieben sind. Ihre Lebenswirklichkeit ist eindrucksvoller, als selbst sie es unter den gegebenen Umständen zu erwarten gewagt hätten.

Junior, geboren 1988 und aufgewachsen in Festac Town, einem Mittelklasse-Viertel in Lagos, Nigeria, wollte schon in der 10. Klasse Profifußballer werden. Er war nicht nur ein talentierter Spieler, sondern hat auch drei Brüder, die erfolgreiche Profifußballer bei Vereinen in Europa waren. Seine Eltern – der Vater Farmer, die Mutter Ladenbesitzerin – hätten es lieber gesehen, wenn er einen anderen Berufsweg eingeschlagen hätte, aber nichts konnte Junior von seinem ehrgeizigen Traum abbringen.

Mit 18 Jahren wurde er von einem Agenten gescoutet und nach Belgien gebracht. Dieser Agent suchte einen Spieler, der sofort einen Profivertrag erhalten konnte. Umso enttäuschter war er, dass der Verein, an den er Junior verkaufen wollte, ihn nicht direkt in die erste Mannschaft aufnehmen wollte. »Sie wollten mich sechs Monate lang als Ersatzspieler verpflichten. Mein Agent war damit nicht einverstanden.« Einen Monat und drei Wochen später war Junior zurück in Lagos.

Junior spricht sehr leise und er nimmt es mit Daten genauso genau wie mit seinem sorgfältig gestutzten Bart. Bei ihm gibt es keine Ungenauigkeiten. Doch beim Nacherzählen von Ereignissen ist er nicht ganz so detailliert. Ich frage mich, ob er aus der Not heraus gelernt hat, dies zu tun. Die Belgier verlangen Genauigkeit, selbst in lockeren Gesprächen. Junior hat die gesamte Prozedur durchlaufen, um »legal« zu werden, und ist mit Beamten konfrontiert gewesen, die präzise Daten und ein hohes Maß an Genauigkeit verlangen. Gleichzeitig hatte er in Gesprächen mit Journalisten und anderen Afrikanern gelernt, dass man vorsichtig sein muss, wenn man zu viele Informationen preisgibt.

Junior verbrachte ein Jahr und neun Monate in Lagos, bevor er mit einem anderen Agenten über Italien nach Europa zurückkehrte. Der neue Agent hatte den Ruf, alle seine Talente unter Vertrag zu nehmen. Wie Junior jedoch viel später herausfand, wurde er von einem anderen Agenten ausgebootet, der Spieler aus Afrika für das Zehnfache des Preises vermittelte. Dieser Agent verhandelte immer direkt mit den Mannschaftspräsidenten und arbeitete nicht mit anderen Funktionären zusammen. Junior hatte die Möglichkeit, bei einem Team in der 3. italienische Liga zu unterschreiben und sich als Student einzuschreiben, um den bürokratischen Aufwand zu erleichtern, aber Junior hatte kein Interesse an der Schule. Und wenn er nicht so erfolgreich werden würde wie versprochen, gab es auch keinen Anreiz zu bleiben. »Außerdem vermisste ich nach zwei Monaten Abwesenheit meine Freundin. Ich wollte zurückkehren«, fügt er mit einem breiten Grinsen hinzu.

2009 wurde Junior von einem nigerianischen Agenten nach Finnland geholt, um bei einem Team zu spielen, das ihm eine 70-prozentige Chance auf einen Vertrag garantierte. Doch nach zwei Wochen rief derselbe Agent an und forderte ihn auf, den Verein anzulügen, dass er unerwartet »nach Afrika« gehen müsse, aber in Wirklichkeit nach Belgien gehen solle, wo sein europäischer Kollege ihn bei einem besseren Team unterschreiben lassen würde. »Du bist eine Nummer zu groß für Finnland«, sagte er zu Junior. Junior befolgte seinen Rat. Er wurde in einem schönen Hotel in Charleroi untergebracht, aber in den zwei Wochen, die er dort verbrachte, wurde er nur einmal zum Training mit einer U13-Mannschaft mitgenommen. Er weiß nicht, was schiefgelaufen ist, aber er hat weder von seinem nigerianischen Agenten noch von seinem belgischen Kollegen je wieder etwas gehört. Junior verließ das Hotel und zog bei einem Freund in Antwerpen ein und versuchte, auf eigene Faust eine Mannschaft zu finden.

Die Mannschaft, die er schließlich fand, war nicht die, von der er geträumt hatte, aber eine, die ihm nach den früheren Enttäuschungen Respekt und Anerkennung gab. Eine Mannschaft, die aus afrikanischen Fußballern bestand, die von der Aussicht auf Erfolg in Europa angelockt und durch den Erfolg ihrer Landsleute, die in verschiedenen europäischen Ländern in der ersten Liga spielen, motiviert wurden – jedoch aus verschiedenen Gründen nicht den gleichen Erfolg erzielen konnten. Die Mannschaft trainierte jeden Morgen gemeinsam, und wenn sie Glück hatte, wurden einige von ihnen für ein »Cafévoetbalteam« ausgewählt – so nennt man in Belgien Amateurteams, die keinen Liga-Fußball spielen. Caféfußball-Mannschaften bestehen aus belgischen Männern mittleren Alters, die vor allem wegen der Kameradschaft kicken. Die Mannschaften werden in der Regel von kleinen Unternehmen unterstützt, und es ist nicht ungewöhnlich, dass die Teams zwei oder drei qualitativ deutlich bessere Spieler bezahlen, um das Spielniveau anzuheben. Bei diesen Spielern handelt es sich ausnahmslos um Afrikaner, die – wenn nicht im Ausland, dann in ihrem eigenen Land – Profi hätten werden können. »Man träumt, Profi zu werden, und landet in der 12. Liga«, sagt Junior.

Junior ist jetzt legaler belgischer Staatsbürger, aber es war nicht einfach, diesen Status zu erlangen. Er war in einer Beziehung mit einer nigerianisch-ghanaischen Frau mit belgischer Staatsangehörigkeit, die er hätte heiraten können, um den Weg zur Staatsbürgerschaft zu erleichtern. Da er mit seiner Abhängigkeit von ihr nicht zurechtkam und wusste, dass es nicht »richtig« war, trennte sich Junior von ihr. Um jedoch in Belgien bleiben zu können, musste er beweisen, dass er ein produktives Mitglied der Gesellschaft war, indem er jeden Monat bei den städtischen Behörden vorstellig wurde und nachweisen konnte, dass er die erforderlichen Arbeitsstunden geleistet hatte.

In Anbetracht der Tatsache, dass es für einen schwarzen Ausländer mit rudimentären Sprachkenntnissen schwierig ist, Arbeit zu finden, war das eine ziemliche Herausforderung, sagt Junior. Seit 2015 ist er stolzer Besitzer eines belgischen Personalausweises. Im selben Jahr ging er mit dem Star Boy Collective auf Tournee, um in London aufzutreten – ein Privileg, das ihm zuvor verwehrt worden war. Entschlossen, in Belgien erfolgreich zu werden, nimmt er Niederländischunterricht (»Es ist nicht einfach, hier zu bleiben und nicht arbeiten zu können, nur wegen der ›Registrierung‹. Man kann nicht einmal in die Schule gehen!«). Er versucht, eine Balance zu finden zwischen seinen Träumen, Profifußballer zu werden, ein erfolgreicher Schauspieler zu sein und seiner Arbeit in einer DHL-Fabrik: »Ich würde gerne Theater spielen, aber die Gesellschaft gibt uns nicht die Möglichkeit dazu«.

Als Junior Ahil das erste Mal traf, misstraute er ihm, weil er wie ein Journalist aussah. »Man lernt hier, niemandem zu trauen.« Aber das Versprechen einer bezahlten Arbeit als Schauspieler war zu groß, um es ausschlagen zu können: »Es war der einzige ›schwarze‹ Job, den ich machen konnte«. Und so gab er Ahil eine Chance und entdeckte zu seiner eigenen Überraschung, wie viel Spaß ihm das Theaterspielen machte. Wenn Junior über Ahil und die Schauspielerei und seine Liebe dazu spricht, verschwindet die Mattigkeit in seiner Stimme. Seine Augen nehmen einen fast fiebrigen Glanz an.

Wenn er davon erzählt, dass er Ahil falsch eingeschätzt habe (»Ich dachte, er wollte uns mit unseren Geschichten vor den Weißen dumm aussehen lassen«), lächelt er entschuldigend. »Mir wurde klar, dass Ahil nur wollte, dass unsere Geschichten gehört werden.« Und das ist es, was ihm das Theater gegeben hat: eine Gelegenheit, seine Geschichte aus erster Hand zu erzählen, Mythen und falsche Stereotypen abzubauen, eine Chance, verstanden zu werden. »Weil die Leute einen nicht verstehen, urteilen sie leicht über einen. Sie denken, man sei faul, wolle nicht arbeiten, aber man hat keine Papiere. Wenn man auf einer Party drei Teller isst, denken sie, man sei gierig, aber man hat kein Geld für Essen«, sagt Junior. Er schenkt mir wieder sein typisches Lächeln und sagt: »Das Theater ist unsere Nationalmannschaft. Es hat mir geholfen, Frieden in mir selbst und in Europa zu finden.«

Kürzlich hat Junior eine Rolle im Fernsehen bekommen, er spielt in »Spitsbroers«, einem belgischen TV-Drama, das sich um einen großen Fußballverein dreht. Wenn er auf der Straße erkannt wird, schmeichelt ihn das sehr, aber um zu überleben, muss er immer noch das Jobcenter aufsuchen und auf Arbeit hoffen, während er darauf wartet, dass sein neuer Traum wahr wird und er seinen Lebensunterhalt bestreiten kann.

Lateef teilt Juniors Hoffnung, eines Tages Profi zu werden. »Wenn Gott will, dass ich noch spielen werde, dann werde ich auch spielen«, sagt Lateef. Aber in der Zwischenzeit will er in erster Linie seine Familie ernähren und geht auch anderen Jobs nach, um sicherzustellen, dass es seinen Kindern an nichts fehlt. Er arbeitet in einer Fabrik. Auch er hat auch »Caféfußball« gespielt – er spielt, weil es ihm Spaß macht. Vom Theater hat er keine Ahnung, und das ist seine Stärke.

»Weil er nicht versucht zu schauspielern, wirkt seine Performance natürlich. Man bekommt Lateef pur auf der Bühne, keine Rolle«, sagt Ahil. Noch wichtiger ist, dass er schauspielert, weil es sich lohnt. Auch wenn Lateef gerne auftritt, ist es eher das Geld, das er damit verdient, als die Liebe zum Theater, die ihn bei der Stange hält. Noch bevor er seine Papiere erhielt, reiste er mit der Truppe mehrmals nach Deutschland, Holland und in die Schweiz, trotz des Risikos von Einreisekontrollen.

Lateef wird zu unserem Gespräch von seiner Tochter begleitet, einem hübschen Mädchen mit wildem, lockigen Haar.  Die beiden lieben sich offensichtlich sehr. Er hat noch eine weitere Tochter, eine Siebenjährige, die von ihrer Mutter in Nigeria aufgezogen wird und mit der er regelmäßig telefoniert. Seine Tochter in Nigeria erfahre eine privilegiertere Erziehung als die Schwester in Belgien, stellt Ahil fest. Lateef schickt genug Geld nach Hause, um sicherzustellen, dass sie in einem Land, in dem das öffentliche Schulsystem mangelhaft ist, eine private Eliteschule besuchen kann. Lateef hat Nigeria für ein besseres Leben verlassen, aber es ist seine Tochter in Nigeria, die das »bessere Leben« genießt und die hoffentlich kein Wirtschaftsflüchtling werden muss. Die Ironie macht Ahil neugierig: die Tatsache, dass Lateefs Tochter, die in einem Entwicklungsland mit all den Vorteilen einer erstklassigen Ausbildung aufwächst, in Zukunft wahrscheinlich bessere Chancen haben wird als ihre Schwester, die in einem entwickelten Land aufwächst, in dem die Macht noch immer fest in den Händen der weißen Mittelschicht liegt.

Lateef ist ebenso diszipliniert wie engagiert. Seit 2010 ist er in Europa, zunächst mit einem nigerianischen Tournee-Team in Portugal, wo er Testspiele bestritt. Eines davon war gegen Sporting Lissabon, aber er wurde nicht engagiert, weil sein nigerianischer Agent eine höhere Ablösesumme verlangte, als ihm angeboten wurde, sagt Lateef. Anstatt nach Nigeria zurückgeschickt zu werden, rief Lateef seinen »Bruder« in Belgien an. Bei diesem »Bruder« handelte es sich um einen nigerianischen Landsmann, der – nach eigenen Angaben – ein erfolgreicher Spieler in Belgien war und Lateef in eine Mannschaft vermitteln konnte. Er lebte in Kortrijk und bot Lateef Kost und Logis an. Lateef reiste nach Belgien und musste feststellen, dass dieser »erfolgreiche Fußballspieler« in Wahrheit ein Asylbewerber war, der in einem Flüchtlingsheim untergebracht war, aus dem Lateef bei jeder offiziellen Kontrolle verschwinden musste.

»Ich streifte stundenlang durch die Straßen von Kortrijk, bis ich sicher war, dass der Regierungsbeamte weg war.« Aber das waren keine vergeudeten Stunden. Lateef lernte andere Afrikaner kennen, darunter einen Mann aus Ghana, der ihn in ein Hallenstadion mitnahm, wo er Fußball spielen konnte. Als er eines Tages trainierte, war ein weißer Mann, der zusah, so beeindruckt von Lateefs Fähigkeiten, dass er Lateef und seinem Freund eine Eintrittskarte für ein Spiel des lokalen Erstligisten KV Kortrijk schenkte. Er versprach, Lateef dem Trainer vorzustellen, aber nachdem er zwei Stunden auf den Mann gewartet hatte, ging Lateef wieder. Er bereut es immer noch. »Ich hätte warten sollen.«

In der Zwischenzeit wurde der Asylantrag von Lateefs »Bruder« abgelehnt und Lateef musste sich eine andere Unterkunft suchen. Ein befreundeter nigerianischer Fußballer, der in Antwerpen lebte, brachte ihn bei sich unter und nahm ihn zu den Trainingseinheiten mit. Eines Tages, als er mit diesem Freund unterwegs war, lernte er die Frau kennen, die heute seine Partnerin und die Mutter seiner Tochter ist. Doch der Weg zur Liebe (und natürlich auch zum legalen Aufenthalt in Belgien) war nicht einfach. Sie gingen eine Weile miteinander aus, trennten sich, und in dieser Zeit zog er für sechs Monate mit einer anderen weißen Freundin zusammen. Nachdem er wieder mit der ersten Freundin zusammenkam und plante, mit ihr zusammenzuziehen, wurde er von den »vremdelingen zaken« (Ausländerbehörden) verdächtigt, »strategische Beziehungen« zu unterhalten, also eine Belgierin heiraten zu wollen, nur um den Aufenthaltsstatus zu erhalten. Er wurde sechs Stunden lang von der Polizei befragt und erhielt 30 Tage Zeit, das Land zu verlassen. Lateef und seine Partnerin legten gegen den Abschiebungsbescheid Berufung ein. Ihr Fall wurde für die Behörden noch komplizierter, als seine Partnerin schwanger wurde …

Aloys ist kahl und glatt rasiert und sieht mit seinen 29 Jahren aus wie jemand, der das Leben genießen will. Man kann ihn sich gut auf der Bühne vorstellen, vielleicht sogar besser auf einer Bühne als auf einem Fußballplatz. Es überrascht mich nicht, wenn er zugibt, dass er Fußball als anstrengend empfindet. Aloys spricht Niederländisch, Französisch und Englisch und macht eine Ausbildung zum Techniker. Ahil beschreibt ihn als einen »Experten für das Überleben in Europa«.

Aloys kam vor acht Jahren über die kamerunische Fußballakademie, L’École de Football Brasseries du Cameroun, nach Europa. Er war einer von 22 Spielern, die für ein Turnier in Frankreich ausgewählt wurden. Die Spieler sollten nach dem Turnier nach Kamerun zurückkehren, aber Aloys wurde von einem Agenten abgeworben und überredet, nach Belgien zu gehen und dort zu spielen.

»Ich wusste nichts über den belgischen Fußball«, sagt Aloys, aber er wusste genug über Europa und über erfolgreiche afrikanische Spieler in Europa, um zu wissen, dass er bleiben wollte. »Und ich vertraute dem Agenten, weil er weiß war.« Der Agent versprach ihm, ihn für den RSC Anderlecht spielen zu lassen, und brachte ihn in einem Hotel unter, verschwand aber nach fünf Tagen.

Als Aloys merkte, dass der Agent nicht zurückkam, war er auf die Freundlichkeit von Fremden angewiesen. Für junge afrikanische Fußballer, die versuchen, in Europa zu überleben, ist das die Solidarität der schwarzen Gemeinschaft. Einer der Männer, die ihm halfen, war ein Togolese. Dieser Mann zeigte Aloys, wie er einen Asylantrag stellen muss, verwies ihn an die Einwanderungsbehörde und das Generalkommissar für Flüchtlinge und Staatenlose. So konnte Aloys bis zur Entscheidung über seinen Asylantrag in Belgien bleiben.

Die ersten sechs Monate verbrachte Aloys in einem Asylbewerberheim in einer belgischen Kleinstadt, um auf eine Entscheidung zu warten. Dort trainierte er auf eigene Faust, bevor er den Stress, den das Leben in Flüchtlingsheimen mit sich bringt, leid war. Er entschied sich, mit einem kleinen Taschengeld »draußen« zu leben. Dies gab ihm die Möglichkeit, das Land besser kennenzulernen, Menschen zu treffen, neue Freundschaften zu schließen und eine Beziehung mit einem einheimischen Mädchen einzugehen. Als sein Asylantrag abgelehnt wurde, war Aloys nicht so erschüttert, wie er es sonst vielleicht gewesen wäre. Seine Beziehung zu seiner Freundin, der Mutter seines Kindes, garantiert ihm das Recht zu bleiben. Er wurde von einem belgischen Agenten entdeckt, der ihm versprach, ihm ein Probetraining beim belgischen Verein Lierse SK zu verschaffen. Er erhielt schließlich einen Halbprofi-Vertrag, aber sein unsicherer Status im Land führte zu Komplikationen und schränkte sein Weiterkommen im Verein ein.

Seit er den Lierse SK verlassen hat, hat Aloys eine Reihe von Probetrainings bei belgischen Provinzvereinen sowie in Rumänien und England absolviert, aber es scheint, dass sein Fußballtraum der Vergangenheit angehört und er mehr in seine Schauspielkarriere investiert. Seine Familie ist aus der Heimat vertrieben worden und die meisten Mitglieder sind in die Vereinigten Staaten umgezogen, so dass eine Rückkehr nach Kamerun für ihn keine attraktive Option ist.

Es hat etwas Herzzerreißendes, wenn junge Afrikaner glauben, dass sie in den Norden auswandern müssen, um zu überleben und ein besseres Leben zu führen. Ihre Hoffnungen hängen von den Versprechungen von Männern ab, für die ihr Leben eine Handelsware ist, von Mauern und Zäunen und dem realen Risiko, bei der Überquerung des Mittelmeers zu sterben. Dennoch liegt ein gewisser Trost in ihrer Bereitschaft, sich zu ihrem Leid zu bekennen, und in ihrem Wunsch, die Wahrheit über die Bedingungen des Überlebens in Europa zu erzählen.

Hier trifft das Igbo-Sprichwort zu: »Ekwue ma anughi mere nwata, mana afu ma ekwughimere okenye.« Ein Kind ist ruiniert, wenn es nicht zuhört (auf das, was ihm gesagt wird), aber ein Erwachsener ist ruiniert, wenn er nicht spricht (über das, was er gesehen hat).

»Tänze für den Preis von einer Tasse Kaffee«

»Tänze für den Preis von einer Tasse Kaffee«

Tümay Kılınçel und Cornelius Schaper im Gespräch mit Alexandra Wehrmann über ihre Tanzwunschmaschine ›kaleiDANCEscope‹, verschwundene Tänze und wie eine Minibühne in einem Wohnwagen auf das Publikum wirkt.
– 6. Juli 2022

Das Kollektiv should-I-know um Tümay Kılınçel und Cornelius Schaper ist ein Zusammenschluss verschiedener Künstler:innen aus den Bereichen Performance, Bewegung, Medien und Musik. Kılınçel und Schaper leben und arbeiten in Düsseldorf und entwickeln seit 2014 gemeinsame Projekte. Dabei werden vorhandene Strukturen des öffentlichen Raumes neu geordnet, umgedeutet und unterwandert, Wechselwirkungen von Innen und Außen, privat und öffentlich, Einschluss und Ausschluss durchleuchtet. Bis 2016 waren sie mit ›DANCE BOX‹ (2014), dem Prequel zu ›kaleiDANCEscope‹, auf Tour in Deutschland, Österreich und der Schweiz. 2020/21 wurden sie mit Jungyun Baefür das Mentoring-Programm des NRW Landesbüro Freie Darstellende Künste ausgewählt.

Mit eurem Kollektiv should-I-know seid ihr Teil des diesjährigen asphalt Festivals. Wer verbirgt sich hinter dem Namen? Und welche Hintergründe haben die einzelnen Akteur:innen?

Cornelius Schaper: Wir, Tümay Kılınçel und ich, sind should-I-know. Unsere Zusammenarbeit startete im Jahr 2013 in Düsseldorf.

Tümay Kılınçel: Seitdem arbeiten wir neben unseren eigenen künstlerischen Arbeiten gerne auch als Duo zusammen.

Cornelius Schaper: Ich beschäftige mich hauptsächlich mit Video und Performance. Zum einen mache ich Videoinstallationen und zum anderen bin ich in unterschiedlichen Rollen an performativen Arbeiten beteilligt.

Tümay Kılınçel: Ich habe in Berlin und Giessen zeitgenössischen Tanz, Kontext Choreografie und Performance studiert. Seitdem mache ich unterschiedliche Arbeiten auf und hinter der Bühne.

Cornelius Schaper: Natürlich machen wir als should-I-know nicht alles alleine und haben ein Netzwerk, das uns unterstützt und ohne das die meisten unserer Arbeiten nicht möglich wären.

Im Rahmen des Festivals präsentiert ihr am 7., 8. und 9. Juli euer Projekt kaleiDANCEscope. Eine Tanzwunschmaschine. Wie genau funktioniert die?

Tümay Kılınçel: Die Tanzwunschmaschine funktioniert ähnlich wie eine Jukebox. Die Zuschauer:innen können sich einen Tanz aussuchen, der dann präsentiert wird. Das Besondere ist, dass es eine Eins-zu-eins-Tanz-Performance ist, das bedeutet ein:e Tänzer:in tanzt für eine:n Zuschauer:in.

Cornelius Schaper: Gleichzeitig ist die Tanzwunschmaschine ein Archiv, das stetig wachsen soll. Beginnend mit dem asphalt Festival fängt das kaleiDANCEscope an, Tänze zu sammeln und zu archivieren. Auch besonders ist das Bühnenbild und der Aufführungsort.

Wonach habt ihr die Tänze zusammengestellt, die zur Auswahl stehen? Und wie viele sind es?

Cornelius Schaper: Wir laden in jeder Spielstätte neue regionale Tänzer:innenein, ihr Tanz-Repertoire für uns zu tanzen. Gleichzeitig gibt es auch ein festes kaleiDANCEscope-Ensemble, das immer mit dem Repertoire mitreist.

Tümay Kılınçel: Die Gast-Tänzer:innen und das Tanz-Ensemble tauschen ihre Tänze auch untereinander aus. So entsteht immer etwas Neues.

Im Vorfeld des asphalt Festivals habt ihr lokale Tanzgruppen aufgesucht, umbesondere Tänze, die in Düsseldorf getanzt werden, aufzuspüren. Worauf seid ihr bei eurer Recherche gestoßen?

Cornelius Schaper: Düsseldorf bietet viele unterschiedliche Tanzformen: vom anatolischen Tanzverein über Vogueing, Hiphop, zeitgenössischen Tanz bis hin zu Karnevalsvereinen. Auch gibt es so etwas wie rheinischen Volkstanz, wir konnten allerdings niemanden finden, der ihn noch tanzt. Es war trotzdem schön, alle kennenzulernen, da wir so ein besseres Bild von der Düsseldorfer Tanzszene bekommen haben, gerade abseits der großen Bühnen.

Tümay Kılınçel: Die nun im kaleiDANCEscope vertretenen Tänzer:innen sindein Ausschnitt aus der Düsseldorfer Szene. Gleichzeitig sind sie der Beginn unseres wachsenden Archivs von Tänzen, die kaleiDANCEscope auf seiner Reise sammelt.

Die meisten Künstler:innen möchten so viele Zuschauer:innen wie möglich erreichen mit ihrer Arbeit. Warum habt ihr euch für eine Eins-zu-eins-Performance entschieden? Was reizt euch daran?

Cornelius Schaper: Bei einer Eins-zu-eins-Performance ist man dem Geschehen näher als auf einer großen Bühne, wo man weit weg vom Geschehen sitzt. So können die Zuschauer:innen die Tanz-Performance besser spüren. Es ist auch eine Frage des Fokus, weil es keine Sitznachbarin gibt, die ablenken könnte, sondern man komplett auf die tanzenden Person fokussiert ist.

Tümay Kılınçel: Von der Zuschauer:innenzahl ist es vielleicht weniger, aber durch die individuelle Intensität erreicht es die Leute direkter. Ähnlich wie in einer Bibliothek, wo man sich auch oft alleine mit einer Sache auseinandersetzt und gerade durch die Vereinzelung eine besondere Konzentration entstehen kann.

Die Tänze werden nicht direkt im öffentlichen Raum präsentiert, sondern auf einer Miniaturbühne. Wie darf man sich die vorstellen?

Tümay Kılınçel: Die Bühne ist ein Caravan und ein sinnlicher Erlebnisraum. Das Publikum soll sich selbst ein Bild machen und den Raum erfahren, deswegen verraten wir Vorfeld nicht zu viel.

Cornelius Schaper: Gleichzeitig möchten wir ausloten, wie es ist, im öffentlichen Raum auch wieder aus diesem herauszutreten in eine Art Parallelwelt.

Mit der Bühne seid ihr an drei unterschiedlichen Orten im Düsseldorfer Stadtraum. Wonach habt ihr die ausgewählt? Was für ein Publikum möchtet ihr gerne ansprechen?

Tümay Kılınçel: Wir wollten immer schon mal Teil eines Marktes sein, auch bei uns kann man ja etwas auswählen und kaufen, nämlich Tänze für den Preis von einem Kaffee. Außerdem sind wir auf das Publikum gespannt, das an den Orten ist. Wir glauben, dass es sehr vielfältig ist. Immerhin spielen wir auf zwei Wochenmärkten und einem Flohmarkt.

Cornelius Schaper: Gleichzeitig wird es natürlich auch Menschen geben, die gezielt zu uns kommen. Aber eigentlich möchten wir Passant:innen ansprechen und ihnen etwas anbieten, was sie an diesem Ort nicht erwartet hätten.

In der von euch schon beschriebenen Umgebung trefft ihr mutmaßlich überwiegend auf Menschen, die bisher wenig Berührung mit einer solchen Art von Kultur gehabt haben. Wie versucht ihr die Hemmschwelle, gerade bei einer Ein-zu-eins-Situation, in der man sich als Gast ja nicht in einer Gruppe verstecken kann, niedrig zu halten?

Cornelius Schaper: Im Durchschnitt dauert der Besuch im kaleiDANCEscopeetwa drei Minuten, manchmal kürzer, manchmal länger. Eine Zeitspanne, die man durchaus investieren kann, um etwas Neues auszuprobieren. Und es gibt draußen einen Empfang und Menschen, die ansprechbar sind.

Tümay Kılınçel: Man kann aber auch draußen verweilen und zum Beispiel dem DJ-Set lauschen, das extra für das Festival erstellt wurde. Es braucht Mut in den Wohnwagen reinzugehen, aber es lohnt sich.

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7 Juli 13–18 Uhr: Wochenmarkt Eller, Gertrudisplatz
8 Juli 13–18 Uhr: Rheinischer Bauernmarkt Unterbilk, Friedensplätzchen
9 Juli 12–17 Uhr: Trödelmarkt Aachener Platz, Ulenbergstr. 10

Für die Vorstellungen von ›kaleiDANCEscope‹ gibt es keine Tickets im Vorverkauf, der Eintritt vor Ort kostet 2 Euro.

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Das Interview ist zuerst auf dem Düsseldorf-Blog theycallitkleinparis von Alexandra Wehrmann erschienen. Wehrmann arbeitet als Journalistin für verschiedene Medien und berichtet seit 2015 in ihrem Blog über Menschen, die ihren wie auch immer gearteten Teil zum städtischen Leben beitragen. 2021 erschien ihr Buch ›Oberbilk. Hinterm Bahnhof‹, das sie gemeinsam mit dem Fotografen Markus Luigs veröffentlicht hat.  

»Wir sind alle ein Stück weit Hamster Edward«

»Wir sind alle ein Stück weit Hamster Edward«

Anke Retzlaff, Peter Florian Berndt und Paul Jumin Hoffmann über ihre Produktion ›Wofür es sich zu kämpfen lohnt‹, die bei asphalt 2022 Premiere feiert.
– 1. Juli 2022

Ein Rad, ein paar Körner und Wasser. Ist das alles, worum die Gedanken eines Hamsters kreisen, wenn er in seinem Käfig umherläuft? Oder träumt er in Wahrheit von seinem Ausbruch, vom Leben jenseits der Gitterstäbe und unbekannten Abenteuern? Was würden wir in seinem Tagebuch lesen? In einem musikalischen Theaterstück verleihen die Schauspielerin Anke Retzlaff und der Multiinstrumentalist Peter Florian Berndt einem kleinen Hamster Stimme und Körper.

Begleitend zur Inszenierung stellt die Produktion an verschiedenen Stellen der Stadt eine mobile Telefonzelle auf, an der Passant:innen persönliche Geschichten, Gedanken und Gefühle zum Thema Freiheit hinterlassen können. Ein Gespräch mit Anke Retzlaff, Peter Florian Berndt und Paul Jumin Hoffmann über ihre Produktion ›Wofür es sich zu kämpfen lohnt‹, die bei asphalt 2022 Premiere feiert.

Als Textgrundlage arbeitet ihr mit der Graphic Novel der Geschwister Miriam und Ezra Elia ›Das Tagebuch von Edward dem Hamster 1990-1990‹. Wie kam es dazu?

Anke Retzlaff: Wir sind auf den Text per Zufall aufmerksam geworden, schon vor einigen Jahren. Er stand im Regal eines Freundes und hat uns sofort begeistert. Seitdem haben wir immer wieder davon geträumt daraus etwas Eigenes zu machen und im Laufe der Zeit so einige Lieder für den kleinen Hamster geschrieben.

Ihr habt im vergangenen Jahr mit der Produktion ›Dream Machine‹ für das Festival ›Theater der Welt‹ bereits mit Audio-Aufnahmen von Träumen gearbeitet. Warum diese Vorgehensweise?

Peter Florian Berndt: Es ist ein Versuch, den Theaterabend durch echte Stimmen zu beleben, sowohl durch ihren Inhalt als auch durch ihre sehr verschiedenen klanglichen Texturen. Außerdem sind die Stimmen, die Gedanken und Beteiligungen der Menschen, die sich auf diese Weise mit unserem Stück verbinden, eine wertvolle Quelle der Inspiration für die Erarbeitung. Es gibt kein wärmeres und interessantes Instrument als die Stimme.

Anke Retzlaff: Das stimmt. Ich liebe es, mit Stimmen von Menschen zu arbeiten. Es interessiert mich, was die Menschen um mich herum zu den Themen der Stücke zu sagen haben, was ihre Gedanken und Gefühle sind, die möchte ich gerne in unsere Projekte einbinden. Bei ›Dream Machine‹ haben wir Träume gesammelt und sie eingebunden, dabei ging es darum, Menschen in einem assoziativen Raum über ihre Ängste und Sehnsüchte miteinander zu verbinden, ohne dass sie sich körperlich begegnen.

Unter welcher Fragestellung oder unter welchem Motto stehen die Audio-Aufnahmen für das ›Tagebuch eines Hamsters‹?

Anke Retzlaff: Angesichts globaler Spannungen und Krisen interessiert es uns besonders, was die Menschen in unserer Stadt im Augenblick persönlich beschäftigt. Wie sie ihre Welt wahrnehmen und mit aktuellen Ängsten, Wünschen und Gedanken umgehen. Das können sowohl kleine als auch große Gedanken und Gefühle sein. Zum Beispiel wie man sie in einem Tagebuch hinterlassen könnte. In unserer Vorstellung sind wir alle ein Stück weit Hamster Edward, in unseren ganz persönlichen Hamsterrädern und vielleicht auch Käfigen. Über diese verschiedenen Hamsterräder und Käfige würden wir gerne mehr erfahren.

Ihr wollt auch instrumental arbeiten. Würdet ihr diese Produktion eher als Konzert, als Lesung oder als Theaterstück beschreiben?

Paul Jumin Hoffmann: Alle drei Begriffe treffen zu. Was nur noch fehlt, ist die Teilhabe der Besucher:innen durch die Sammelstation in der Stadt.

Die Premiere des Tagebuchs eines Hamsters wird auf der Seebühne des asphalt Festivals sein. Dort werden die Zuschauer:innen die Musik und Stimmen sehr nah und unmittelbar per Kopfhörer hören. Was erwartet ihr von dieser besonderen Aufführung?

Peter Florian Berndt: Ich stelle mir vor, dass es das Publikum in den Bann zieht, weil es sehr unmittelbar sein wird. Die Lieder, die Gespräche, die Stimmen werden wie eigene Gedanken sein. Im Grunde ist diese Direktheit eine sehr manipulative Vorgehensweise, aber das Publikum ist nicht zu unterschätzen: Heutige Rezeptionsgewohnheiten ermöglichen es uns, auf diese Weise einen intensiven und anregenden Abend zu gestalten, ohne das Publikum mit Technik zu erschlagen.

Ist die Produktion vor allem für Kinder und Jugendliche?

Anke Retzlaff: Die Produktion entwickeln wir sowohl für junge als auch ältere Menschen. Ich glaube, dass einige der Gedanken und Gefühle, die Edward in seinem Hamsterrad erlebt, uns in unserem Leben zu verschiedenen Zeiten in ganz unterschiedlichen Gestalten immer wieder begegnen und uns bewegen. Genauso wie der Versuch uns auszudrücken, sei es für uns selbst in einer Art Tagebuch, durch Kunst, Musik oder im direkten Kontakt und Austausch mit anderen. Vielleicht gelingt es unserem kleinen Hamster ja, die Gedanken und Gefühle von Menschen aus der Stadt aus verschiedenen Generationen miteinander zu verbinden und sie zu Verbündeten untereinander zu machen.

Paul Jumin Hoffmann: Ich denke sowohl Erwachsene als auch Kinder und Jugendliche werden sich mit Edward dem Hamster gut identifizieren können. Ich habe mich damals in der Schule oft unfrei und einsam gefühlt, später im Berufsleben viel zu spät bemerkt, wie lange ich schon im gemütlichen Hamsterrad auf der Stelle trete. Gefühle von Isolation und Einsamkeit sind in Zeiten der Pandemie niemandem unbekannt, wobei die junge Generation besonders davon betroffen ist. Edwards Strategie daraus auszubrechen ist, Verbündete für seinen Kampf zu finden.

Anke Retzlaff ist Schauspielerin, Musikerin und Regisseurin. Für ihre Rolle im Kinofilm ›Puppe‹ wurde sie 2013 für den New Faces Award als beste Nachwuchsschauspielerin nominiert und 2021 als Beste Nachwuchskünstlerin in ›Theater heute‹ genannt. Beim Festival ›Theater der Welt‹ in Düsseldorf wurde 2021 ihre Performance ›Dream Machine‹ uraufgeführt, an der auch Berndt und Hoffmann mitwirkten.

Peter Florian Berndt ist Musiker, Liedtexter und Performer. Als Komponist und Bühnenmusiker war er bereits an verschiedenen Theatern in Deutschland tätig. Er ist aktives Mitglied des professionellen Improtheaterensembles ›Ernst von Leben‹ und E-Gitarrist bei ›Los Pistoleros Güeros‹.

Paul Jumin Hoffmann ist Schauspieler und war vier Jahre lang festes Ensemblemitglied des Jungen Schauspiels Düsseldorf. Aktuell ist er in verschiedenen Rollen in der Produktion »Endstation fern von hier« des Theaterkollektivs Pièrre.Vers zu sehen, die bei asphalt 2022 uraufgeführt wurde. Hoffmann führte bereits bei verschiedenen Theaterproduktionen gemeinsam mit Anke Retzlaff Regie.

»Ich brauche die Resonanz«

»Wir sind alle ein Stück weit Hamster Edward«

Anke Retzlaff, Peter Florian Berndt und Paul Jumin Hoffmann über ihre Produktion ›Wofür es sich zu kämpfen lohnt‹, die bei asphalt 2022 Premiere feiert.
– 1. Juli 2022

 

Marlon, du bist Lyriker, Musiker und bildender Künstler. Im Rahmen des diesjährigen asphalt Festivals ziehst du ins Weltkunstzimmer ein und lebst und arbeitest dort in einem offenen Atelier. An insgesamt sieben Tagen können dich die Festival-Besucher:innen besuchen. Wie entstand die Idee zu der Aktion?
Oft schweben die Ideen förmlich in der Luft. Die kunstschaffende Person stößt durch Zufall auf ein Buch oder eine Idee, ein Impuls und passende Situationen kommen dazu. Möglichkeiten. So hatte ich nach einem Umzug in ein neues Atelier und meine stete Fähigkeit, Räume bespielen und füllen zu können, irgendwo in einer Hirnecke den Wunsch und die Idee einmal meine Raumerschließung – ob sie nun gelingt oder nicht – offen zu legen. Ich hatte in meinen Ateliers in gewissen Phasen immer Menschen, Künstler:innen oder nicht, und gerade die unfertigen Arbeitssituationen schienen die spannenden zu sein. Oft wurde ich dann auch gefragt, wo ich denn meine Texte hernehmen würde, wo die Gedanken sich formten. Häufig konnte ich es gar nicht beschreiben. Natürlich, sie formen sich plötzlich, ein Satz wird aufgeschnappt oder schießt durch das Dauerdenken hervor. Dann passiert allerdings in vielen Punkten die Kombination aus Wissen, Übung und Eingebung. Sich einen Katalog zu schaffen, aus dem geschöpft werden kann, ist in allen Richtungen wichtig für mich. Die Entstehung eines solchen Katalogs zum Beispiel durch ein neues Atelier, andere Energien und neuen Input, ist das Moment, das ich zeigen möchte. Es sind in letzter Zeit auch neue Ideen entstanden, die ich gerne einem Ortswechsel aussetzen möchte.

Die meisten Künstler:innen arbeiten bevorzugt unter Ausschluss der Öffentlichkeit und zeigen ihre Werke erst, wenn sie fertig sind. Was reizt dich daran, die Menschen am Entstehungsprozess teilhaben zu lassen?
Ich kann mir vorstellen, dass es manche Menschen interessieren könnte. Zudem erlebe ich gerade selbst beim Arbeiten, wie manche Skizzen, welcher Art auch immer, einfach schon zünden, eine Welle erzeugen, etwas ins Rollen bringen. Das erzeugt ein Moment der Spannung. Ich habe keine Scheu, keine Scham, auch meine Fehler, mein Stolpern, die Umwege, Forschen und Treffer aus dem Unterbewusstsein zu zeigen. So oder so hat die Lyrik, für mich auch die Kunst, somit auch das Leben die Wahrheit des Irrtums inne.

Im Weltkunstzimmer sollen auch Texte entstehen, die durch Gespräche mit Gästen inspiriert sind. Ist diese Arbeitsweise für dich neu?
Nein, mein Schreiben passiert überwiegend durch den Kontakt mit der Welt. Es allerdings auf diese Weise zu konzentrieren beziehungsweise in einer performativen Ausstellung zu aktivieren, ist noch nicht so oft passiert.

Wie wichtig ist dir generell der Austausch mit Betrachter:innen, Zuhörer:innen und Leser:innen, also mit jenen, die deine Arbeit konsumieren?
Extrem wichtig, wenn es ein Austausch ist. Immer nur in sich hinein zu horchen reicht mir nicht. Ich bin grundsätzlich ein kommunikativer Mensch, aktiv und passiv. Ich brauche die Resonanz. Darin finde ich Antworten und Fragen.

An welchen Projekten arbeitest du gerade?
Zunächst einmal das DJOundBO-Kollektiv, dazu gleich mehr. Dann gibt es die Band Botticelli Baby, mit der ich viel auf Tour sein werde. Auf diesen Fahrten durch Europa erlebe ich vieles, was ich in meine Kunst einfließen lasse. Allein das Hochgefühl auf der Bühne und die vielen Menschen, die mir begegnen, inspirieren mich. Ende des Jahres wird es eine Zeit im Studio geben, um ein paar neue Songs aufzunehmen. Die Lyrik läuft durch alles hindurch und einige neue Ansätze, mit Text und Schrift umzugehen, will ich beim asphalt Festival vertiefen. Auch mein musikalisches Solo-Projekt The Puffins reift und wird weiter wachsen.

Du hast Philosophie und Geschichte an der Uni Duisburg-Essen studiert. Seit 2015 bist du Student an der Kunstakademie Düsseldorf. Du hast zahlreiche Ausstellungen und Performances realisiert, ein Buch geschrieben und mit deiner Band Botticelli Baby europaweit Konzerte gespielt. Man könnte den Eindruck gewinnen, du seist rund um die Uhr kreativ. Geht das?
Ja, das geht. Das geht so lange gut, bis ich eben umkippe. Was versteht sich unter Kreativität, frage ich mich hier und führe zur Frage zurück? Irgendwann kam ich an den Punkt, feststellen zu müssen, dass ich gar nicht aufhören kann, Dinge, Eindrücke, Menschen zu sammeln, wahrzunehmen, aufzunehmen und mich berühren zu lassen. Ich konnte das Leben nicht beenden. Inspiriert zu sein und zu inspirieren, was sowohl zu meinem eigentlichen künstlerischen Arbeiten, als auch dem Alltag führt. Morgens einen Kaffee zu trinken ein paar Notizen zu machen, einen Traum festzuhalten, ein paar Gedichte zu lesen oder Musik zu hören gehört für mich genauso zu meiner Arbeit wie konzentrierte Stunden an meinem Arbeitsplatz im Atelier oder auf der Straße. Es ist also immer ein Spiel aus In- und Output. Es ist immer das Leben, meine Arbeit und mein Leben.

Du hast es schon kurz erwähnt: In diesem Jahr hast du gemeinsam mit der Künstlerin Josefine Henning das Kunstkollektiv ›DJOundBO – TRÄNEN, SEX und ALKOHOL‹. Was ist von euch beiden zu erwarten?
Wir werden uns konkret mit Duo-Performances auseinandersetzen. Was kann zum Beispiel Zärtlichkeit in einer Künstler:innen-Beziehung sein? Oder die Beobachtung des Anderen im jeweiligen Dasein? Es wird einen Gedichtband geben mit Linoldrucken und Gedichtzeichnungen, der schon 120 Seiten beschreibt, im Augenblick. Ein Verlag wird übrigens noch gesucht! Linoldrucke, Polaroid-Fotografie und mobile Installationen und Ausstellungskonzepte für das ganze Jahr. Einige Ausstellungen sind in Planung, die sich mit Raum-in-Raum-Konzepten und Performance-Erinnerungen, Überbleibseln und Live-Darstellungen, dem Schaffen eigener Räume befassen können. Malerei, Zeichnung und Notizbuch-Kunst sind stets Blut des Ganzen. Aufkleber, Lesehefte und kleinere Erarbeitungen fließen mit. In all diesem Losgehen sind auf dem Weg oder eben Umweg – gerade letzterer ist besonders wichtig – alle Fehler erlaubt. Das Leben ist das Leben von Künstler:innen, in diesem Fall.

Vernissage Fr 01.07., 18:00 Uhr im Weltkunstzimmer. Das offene Atelier von Bösherz ist anschließend bis einschließlich Sa 09.07. täglich jeweils 18:00 – 22:00 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei.

Das Interview ist zuerst auf dem Düsseldorf-Blog theycallitkleinparis von Alexandra Wehrmann erschienen. Wehrmann arbeitet als Journalistin für verschiedene Medien und berichtet seit 2015 in ihrem Blog über Menschen, die ihren wie auch immer gearteten Teil zum städtischen Leben beitragen. 2021 erschien ihr Buch ›Oberbilk. Hinterm Bahnhof‹, das sie gemeinsam mit dem Fotografen Markus Luigs veröffentlicht hat.  

Marlon Bösherz studierte zunächst Philosophie und Geschichte in Essen und begann 2015 das Studium der Freien Kunst an der Kunstakademie in Düsseldorf. Anfangs war er Schüler von Stefan Kürten, seit 2019 ist er in der Klasse John Morgan und Assistent von Durs Grünbein. Seine Ausstellungen sind genreübergreifend in Malerei, Zeichnung, Objektkunst, Installation und Skulptur und werden stets von performativen Aktionen und Poesie begleitet. Seit 2012 ist Bösherz auch Sänger und Bassist der Band Botticelli Baby, mit der er europaweit Konzerte spielt. Auch Ausstellungen in Palermo, San Francisco, New York, Düsseldorf, Island und Wuppertal haben seine pure und poetische Kunst beherbergt. 2022 gründete er mit der Künstlerin Josefine Henning das Kunstkollektiv ›DJOundBO – TRÄNEN, SEX und ALKOHOL‹.

Den Laden am Laufen halten

»Wir sind alle ein Stück weit Hamster Edward«

Anke Retzlaff, Peter Florian Berndt und Paul Jumin Hoffmann über ihre Produktion ›Wofür es sich zu kämpfen lohnt‹, die bei asphalt 2022 Premiere feiert.
– 1. Juli 2022

Nach ›Schwarz-helle Nacht‹ (2019), ›Aktion:Aktion!‹ (2020) und ›Im Process‹ (2021) endet mit ›Endstation fern von hier‹ unser Zyklus ›Historification›, in dem wir Ereignisse der nationalsozialistischen Zeit in Düsseldorf theatral aufgearbeitet haben. Er endet mit einer großen Herausforderung: Wie macht man dokumentarisches Theater ohne Dokumente?

Die Quellenlage und Berichte der Zeitzeug:innen für die vorangegangenen Projekte waren umfangreich, bewegend und zahlreich. So konnten wir verantwortungsbewusst und gezielt im Umgang mit diesen Dokumenten unsere Stücke entwickeln. Im Themenkomplex der Zwangsarbeit stellte sich uns die Sache anders dar. In den Archiven und Gedenkstätten fanden sich wenig Zeitzeug:innenaussagen, und die, die sich fanden, waren in der Tendenz sehr zurückhaltend in der Beurteilung des eigenen Schicksals. Ganz so, als erlaube man sich nicht, das eigene Unrecht anzuklagen. Als würden die Betroffenen in dem Wissen um das Leid der Anderen ihr eigenes relativieren. Da stellte sich uns als Kollektiv die Frage: Warum hat die Erinnerung an die Zwangsarbeitenden des NS-Regimes in unserer Erinnerungskultur nie ihren Platz eingenommen? Und woran muss in diesem Zusammenhang überhaupt erinnert werden?

Rückblick: Zwangsarbeit in Düsseldorf und Deutschland

1941 – deutsche Soldaten marschieren in die Sowjetunion ein, belagern und plündern, was sich vor ihnen auftut und verpflichten – vor allem junge Menschen – zum Arbeitseinsatz. »In der Reihenfolge der Überfälle wurde die betroffene Zivilbevölkerung erst angeworben und als das nicht ausreichend Reaktionen nach sich zog, zum Arbeitseinsatz im deutschen Reich gezwungen«, so Joachim Schröder vom Erinnerungsort Alter Schlachthof. Er hat zusammen mit Rafael R. Leissa eine umfangreiche Arbeit zum Thema Zwangsarbeit in Düsseldorf vorgelegt und uns während unserer Arbeit mit seinem Wissen begleitet.

Aus ganz Europa kamen die Menschen nach Deutschland: »Der faschistische Staat bestand zu einem sehr großen Teil aus Zwangsarbeit. Viele Menschen waren an der Front oder schon gefallen. Ohne Zwangsarbeit wäre Deutschland nicht organisierbar gewesen», so Schröder weiter.

Für die Firmen war es eine wirtschaftliche Abwägung. Um die Geschäfte weiterführen zu können, brauchte es Mitarbeiter:innen und die waren auf anderem Weg nicht mehr zu kriegen. »Es sind mir keine Fälle bekannt, in denen sich eine Firma geweigert hätte, Menschen für sich arbeiten zu lassen, nur weil sie gezwungen wurden.«

Nach Düsseldorf kamen vor allem Menschen aus der Ukraine, da die Anwerbebezirke entsprechend zugeteilt worden sind. In diesem Zusammenhang ist die ehemalige Gauhauptstadt eine Stadt von vielen. Die genaue Zahl der Zwangsarbeitenden ist dabei schwer zu bestimmen, weil die gesamte deutsche Wirtschaft einer Art Zwangsarbeit unterlag. Auch deutsche Arbeiter:innen konnten nicht einfach arbeiten, wo sie wollten. In Düsseldorf gab es über das gesamte Stadtgebiet verteilt circa 300 Unterkünfte, aber nicht alle Betroffenen haben in Lagern gelebt. Einige lebten auch direkt in den Firmen oder in Familienhäusern. Man kann aber davon ausgehen, dass die Menschen so zahlreich waren, dass sie als Teil des Stadtbildes niemandem verborgen geblieben sein konnten.

Rassismus und Kontinuität

»Was bei der Beschäftigung mit Zwangsarbeit in der NS-Zeit besonders ins Auge fällt, ist die Kontinuität mit der auf Ausländer:innen in Deutschland geblickt wird. Der Vergleich mit den sogenannten ›Gastarbeitern‹ der 50er- und 60er-Jahre drängt sich da zum Beispiel auf. Sie haben in ›Fremdarbeiterlagern‹ gelebt, sie wurden also auch kaserniert, sollten auch unter sich bleiben, hatten deutlich weniger Rechte und mussten die Arbeit machen, die niemand machen wollte und wurden dafür auch noch schlechter bezahlt«, so Schröder.

Und auch heute noch machen immer wieder prekäre Arbeitsverhältnisse ausländischer Arbeitskräfte Schlagzeilen. Das nationalsozialistische Regime hat eine Hierarchie der Nationalitäten etabliert, die sich zum Teil bis heute hält. Nach ihrer Logik sind Menschen aus westlichen Staaten (Holland zum Beispiel) auch Germanen und damit ›rassisch wertvoller‹ als zum Beispiel Menschen italienischer Herkunft, die sich unter ihnen in der Hierarchie einreihten. Darunter wurden die slawischen Nationen einsortiert – sie galten als Arbeitsvölker und bolschewistische Untermenschen – und das Schusslicht bildeten aus nationalsozialistischer Sicht Jüdinnen und Juden und Sinti:zze und Rom:nja. »Das Ganze wurde begleitet von dieser typischen Nazibürokratie – Gesetzen sogar. Man beraubt die Leute ihrer Freiheit, diskriminiert, entrechtet und behandelt sie rassistisch und das wird dann in Gesetz und Verordnung gekleidet, damit es irgendwie legal aussieht«, berichtet Schröder als ein Ergebnis seiner umfangreichen Recherchen.

Insgesamt kamen so im ›Dritten Reich‹ mehr als 20 Millionen Menschen aus ganz Europa zu Schaden, davon waren 13,5 Millionen ausländische Zwangsarbeiter:innen, fünf Millionen kamen als sowjetische sogenannte ›Ostarbeiter‹ (Russ:innen, Ukrainer:innen, Belaruss:innen). Sie waren im Durchschnitt 18 Jahre alt. Auch Kinder wurden zur Arbeit eingesetzt. Lange Jahre mussten die ehemaligen Zwangsarbeiter:innen auf eine Entschädigung warten. Erst im Jahr 2000 wurde die Stiftung ›Erinnerung, Verantwortung und Zukunft‹ gegründet und leistete Entschädigungszahlungen an die Betroffenen (aus einem Gesamtbetrag von zehn Milliarden DM, gespeist aus Zahlungen vom Bund und den damals profitierenden Firmen). Zivilarbeiter:innen bekamen 5.000 DM, KZ-Häftlinge und Ghetto-Internierte 15.000 DM. Kriegsgefangene gingen leer aus, da es nach damaligem Recht erlaubt war, sie für den Arbeitseinsatz einzusetzen. »Für Menschen im Osten hat das Geld schon etwas gebracht. Gleichzeitig steht die Summe in keinem Verhältnis zu dem, was ihnen angetan worden ist«, konstatiert Schröder.

Wer gibt wem die Stimme? Wer die Impulse, um auch in die anderen Ecken der geschichtlichen Aufarbeitung genauer hinzuschauen? Und warum fehlen in unserem Erinnerungskanon mehr als 20 Millionen Stimmen? Wir als Theaterkollektiv Pièrre.Vers haben die zarten Impulse, die uns in der Recherche begegneten, aufgegriffen, verstärkt und vor allem in eine Figur fließen lassen: Valentina, die mit ihrer Geschichte eine von diesen 20 Millionen ist. Sie steht stellvertretend für all die Menschen, deren Geschichte bis heute ungehört blieb.


Juliane Hendes ist Autorin und Dramaturgin und schreibt für Theater, Film und Hörspiel. In Rostock geboren und aufgewachsen, studierte sie in Leipzig Dramaturgie an der Hochschule für Musik und Theater und arbeitete anschließend am Düsseldorfer Schauspielhaus als Regieassistentin. Seit 2016 ist sie freie Autorin und Dramaturgin und arbeitete unter anderem an den Sophiensälen Berlin, dem Nationaltheater Mannheim, den Münchner Kammerspielen und dem Düsseldorfer Schauspielhaus. Als Autorin ist sie der freien Gruppe Pièrre.Vers assoziiert. 2021 wurde sie mit dem Förderpreis der Stadt Düsseldorf für Darstellende Kunst ausgezeichnet. Seit 2022 ist sie Teil von ›rua. – Kooperative für Text und Regie‹.

Die wichtigen Fragen der Gegenwart

»Wir sind alle ein Stück weit Hamster Edward«

Anke Retzlaff, Peter Florian Berndt und Paul Jumin Hoffmann über ihre Produktion ›Wofür es sich zu kämpfen lohnt‹, die bei asphalt 2022 Premiere feiert.
– 1. Juli 2022

Die österreichische Choreografin Doris Uhlich (*1977) entwickelt seit 2006 eigene Produktionen. Viele ihrer Performances sind Untersuchungen von Schönheitsidealen und Normen des Körperbildes, sie beschäftigt sich auch mit der ideologiefreien und provokanten Darstellung von Nacktheit. Musik, insbesondere Techno-Musik, spielt dabei eine wichtige Rolle. Für die Performance ›Ravemachine‹ gewannen Doris Uhlich und der Tänzer Michael Turinsky 2016 den renommierten Nestroy-Sonderpreis für ›Inklusion auf Augenhöhe‹. Uhlichs Produktion ›Every Body Electric‹ war 2019 zur Tanzbiennale Venedig eingeladen, in der Zeitschrift tanz war sie 2018 und 2019 als ›Choreografin des Jahres‹ genannt. Uhlich gilt aktuell als eine der wegweisendsten Choreografinnen Europas. Beim asphalt Festival 2022 ist ihre jüngste Arbeit ›Gootopia‹ zu sehen.

 

Wenn man sich Deine Arbeiten anschaut, wirkst du wie eine ›Systemsprengerin‹, die Disziplinen und Genres überschreitet. Im Grunde vertrittst du keine klassischen Kategorien oder Sparten mehr. Wie würdest du das definieren, was du auf der Bühne machst?

Ich interessiere mich für Themen und finde ihre Umsetzung. Mich kümmert es dann nicht, wie das Genre heißt. Die wichtigen Fragen der Gegenwart werden nicht dadurch gelöst werden, dass man sie in die richtigen Schubladen ablegt.

Aus deinen Produktionen spricht eine große Faszination für den Körper. Bei dir sieht man auf der Bühne auch das Nicht-Normative, das beispielsweise in den Mainstream-Medien oder der Welt der Werbung noch nicht selbstverständlich vorkommt. Welche Körper interessieren dich?

Alle.

Du arbeitest viel mit Menschen zusammen, die keine professionelle Tänzerinnen oder Tänzer sind. Wie läuft der Entstehungsprozess eines neuen Stücks bei dir ab?

Ähnlich wie mit professionell ausgebildeten Tänzer und Tänzerinnen. Wenn man professionell arbeitet, ist die Unterscheidung Laie und Profi obsolet.

Deine Arbeiten bilden oft größere Bögen und du bringst Reihen heraus, die inhaltlich und ästhetisch miteinander zusammenhängen. Woraus schöpfst du deine Themen und deine künstlerischen Impulse?

Eine gute Frage kennt kein Ende und führt oft zu Folgefragen. Daher entstehen oft Serien und Remixe.

In deiner Choreografie ›Habitat‹ waren 120 nackte Körper zu sehen, auch bei ›Gootopia‹ sind die Performer:innen nackt. Welches Konzept verfolgst du damit?

Bei ›Habitat‹ geht es stark um das Arbeiten mit dem nackten Körper jenseits von Ideologien und Bildern, die gesellschaftlich verbreitet sind als Stereotypen. In ›Gootopia‹ wird der Schleim zur zweiten Haut und das macht nackt ganz einfach mehr Sinn. Außerdem müssten wir ständig Wäsche waschen.

In ›Gootopia‹ interagieren sechs Performer:innen mit Schleim. Warum diese Substanz?

Schleim hat in der Pandemie einen schlechten Ruf erfahren. Auch in unserer von Technologie beherrschten Welt hat Schleim keinen Platz – Sterilität ist wichtig. Menschen sind eigentlich schleimige Wesen – wir kommen nackt und schleimverschmiert auf die Welt. Ich wollte Schleim als Mitperformer in ›Gootopia‹ verstehen und unser Verhältnis zu ihm recherchieren. Schleim ist für viele Lebewesen lebensnotwendig. Ich finde vor allem seine verbindende Funktion spannend und dass er Körpergrenzen verflüssigt und aufweicht.

In dem Stück kommen unterschiedliche Arten und Formen von Schleim zum Einsatz. Wie muss man sich den Prozess in der Stückentwicklung vorstellen, bis ihr die passenden ›Aggregatzustände‹ gefunden hattet? Habt ihr viel experimentiert, gab es auch gescheiterte Versuche?

Juliette Collas und Philomena Theuretzbacher, die den Schleim herstellen, haben sehr viel recherchiert und auch bei ihnen zuhause in ihren privaten Küchen ausprobiert. Im Proberaum haben wir viel experimentiert, viel geduscht, viel gelacht, viel gezittert wegen des kalten Schleims auf der Haut. Wir haben versucht Schleime herzustellen, die unterschiedlich triefen, am Körper haften und auch nicht, verbindende Schlieren herstellen, essbar sind. Da gab es auch Umwege im Findungsprozess, wobei jeder Umweg uns zum Teil weitergeholfen hat oder uns überrascht hat. Wichtig war uns Schleim herzustellen, der biologisch abbaubar und hautverträglich ist.

Wie erlebst du als europäische Choreografin, die nicht nur im deutschsprachigen Raum agiert, die aktuelle Entwicklung, dass seit Corona Teile des Publikums dem Theater fern bleiben? Wie blickst du persönlich auf das aktuelle Theater und seine Zukunft, welche Funktion schreibst du ihm in der Gesellschaft zu?

Theater wird es immer geben. Ich denke es ist eine Wellenbewegung – mal gibt es Zeiten, in denen weniger Menschen ins Theater gehen, dann wieder mehr. Man muss Geduld haben – sie kommen wieder bzw. andere werden kommen, solange es gute Arbeiten gibt. Was die Pandemie mir sehr klar gemacht hat: Live-Erlebnisse sind nicht einfach durch digitale Formate zu ersetzen.

Was steht bei dir als Nächstes an?

Nach vielen Tourings im Frühjahr und zu Beginn des Sommers freue ich mich auf eine Sommerpause ab Mitte / Ende Juli. Das kommende Projekt mit dem Titel ›SONNE‹ hat im April 2023 Premiere. Die Idee ist seit vielen Jahren in meinem Kopf – die Sonne performt auf der Bühne und wirft aus einer nicht-menschlichen Perspektive einen Blick auf die Erde und unsere ökologische Krise.

 

 

 

 

»Ich würde gerne mal einen Mann spielen.«

»Wir sind alle ein Stück weit Hamster Edward«

Anke Retzlaff, Peter Florian Berndt und Paul Jumin Hoffmann über ihre Produktion ›Wofür es sich zu kämpfen lohnt‹, die bei asphalt 2022 Premiere feiert.
– 1. Juli 2022

Lucy Wike ist Sängerin, Schauspielerin, Tänzerin, Autorin und Regisseurin. Sie schreibt Drehbücher und inszeniert Kurzfilme und Theaterstücke. Mit ihrer Band BLIND AND LAME tritt sie deutschlandweit auf. Sie hat spinale Muskelatrophie und benutzt einen Rollstuhl. Wilke ist ausgebildete Sprecherin und Sängerin. Ihre Bühnenausbildung erhielt sie am ›International Munich Art Lab‹. Als Performerin war sie bislang auf der Bühne u. a. im Musical ›EXTAZE‹ zu sehen, als Weiße Schwanenprinzessin in der ›Schwanensee‹-Interpretation des Tanzensembles Abart, in der Theaterperformance ›Fucking Disabled‹, in ›Anthropomorphia‹ und sie spielte die Titelrolle in ›Phaidra‹ von Monster Truck. In der Staatsoper Athen und der Kölner Oper sang und spielte Lucy Wilke solo in der Multimedia-Installation ›RE:CONSTRUCTION‹ von UN-LABEL. Mit der internationalen Produktion ›Lands of Concerts‹ arbeitete sie in verschiedenen Ländern Europas an einer neuen Performance. Für ihr eigenes Tanzdebüt ›SCORES THAT SHAPED OUR FRIENDSHIP‹ zusammen mit Paweł Duduś erhielt Wilke 2020 den Theaterpreis DER FAUST in der Kategorie Beste Darstellerin Tanz und das Stück wurde zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Seit Herbst 2020 ist Lucy Wilke festes Ensemblemitglied der Münchner Kammerspiele. 

Eure Inszenierung SCORES THAT SHAPED OUR FRIENDSHIP war zum Theatertreffen Berlin 2021 eingeladen und 2020 wurdest du mit dem Deutschen Theaterpreis DER FAUST in der Kategorie Beste Darsteller:in Tanz ausgezeichnet. Begreifst du dich als Tänzerin oder als Performerin?

Ich begreife mich unter anderem als Tänzerin. Im Grunde bin ich eine Künstlerin, die verschiedene Ausdrucksformen nutzt.

Mittlerweile bist du fest im Theaterbetrieb etabliert und gehörst dem Ensemble der Münchner Kammerspiele an. Hat sich dadurch deine Selbstwahrnehmung als Künstlerin geändert, inwieweit ist dieser Raum zur Entfaltung für dich interessant?

Die Münchner Kammerspiele sind eine super Schule für mich. Es ist schön, mit verschiedenen Regisseurinnen und Regisseuren zu arbeiten und durch das häufige Spielen eine Routine zu bekommen. Die freie Szene liebe ich allerdings auch sehr! Sie ist für mich persönlicher.

Wie würdest du die Unterschiede beschreiben zu deiner künstlerischen, experimentellen Arbeit in der Freien Szene und der in einem städtischen Kulturbetrieb? Bietet auch ein Stadttheater wie den Münchner Kammerspiele Raum für Experimente? 

Ich weiß nicht, wie es in anderen Stadttheatern ist. Die Kammerspiele sind schon experimental ausgerichtet. Natürlich bleibt nicht so viel Spielraum für Persönliches, aber wir werden immer dazu ermutigt uns einzubringen und auch als Mit-Autor:innen zu wirken. Ich glaube, es kommt darauf an, wie viel Eigen-Engagement man hat.

SCORES THAT SHAPED OUR FRIENDSHIP ist ein Ensemblestück von drei Personen aus ganz unterschiedlichen Genres. Wie haben Paweł Duduś, Kim Twiddle und du es gemeinsam entwickelt, im Kollektiv als freie Theaterproduktion?

Pawel und ich haben angefangen das Stück zu entwickeln. Wir hatten ein Budget für die freie Szene. Kim kam dann dazu und wir haben das Stück gemeinsam weiter entwickelt.

SCORES ist ein ganz intimer, zärtlicher Pas de deux. Die Premiere fand im Februar 2020 wenige Tage vor dem ersten Lockdown statt, dann breitete sich die Corona-Pandemie aus. Habt ihr das Stück dann anschließend überhaupt noch spielen können? 

Wir sind auf wundersame Weise immer genau an den Lockdowns vorbeigerauscht und konnten tatsächlich das Stück spielen. Allerdings nicht in der anfänglichen Variante, mit großer Nähe zum Publikum. Ich hoffe, dass wir in Zukunft wieder zu der alten Form zurückkommen können.

Welche Rolle würdest du gerne einmal spielen?

Ich würde gerne mal einen Mann spielen. Oder auch ein klassisches Stück. Das wäre ein großer Kontrast zu dem, was ich jetzt mache.

Ein Ahnentanz für die Zukunft

»Wir sind alle ein Stück weit Hamster Edward«

Anke Retzlaff, Peter Florian Berndt und Paul Jumin Hoffmann über ihre Produktion ›Wofür es sich zu kämpfen lohnt‹, die bei asphalt 2022 Premiere feiert.
– 1. Juli 2022

In ›Endangered Human Movements‹ (›Vom Aussterben bedrohte menschliche Bewegungen‹) befasst sich die mexikanisch-chilenisch-österreichische Choreografin Amanda Piña mit traditionellen Tänzen und Bewegungsfomen, die seit Jahrhunderten existieren, heute aber vom Verschwinden bedroht sind. Bei asphalt N° 10 ist der vierte Teil des Langzeitprojekts zu erleben, ›Frontera | Border – A Living Monument‹. 

 

Die Choreografie basiert auf einem Tanz aus dem Viertel El Ejido Veinte in Matamoros, Tamaulipas, an der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten. Die Gegend wird von Gewalt und Drogenhandel beherrscht. Hier führen junge Menschen auf der Straße den ›Danza del Ejido 20 de Matamoros‹ auf – ein Tanz, der ursprünglich von den Spaniern erfunden wurde und den Sieg der Christen über die Mauren darstellte. Während der Kolonisierung Lateinamerikas wurde er zu einem rassistischen Propagandainstrument, das den Unterschied zwischen Weißen und Nicht-Weißen klarmachen sollte. Die indigene Bevölkerung wurde gezwungen, den ›Mauren‹ zu verkörpern, während die Christen Spanien repräsentierten. Über die Jahrhunderte entwickelte sich dieser ›Eroberungstanz‹ weiter, bis hin zu einer Form des Widerstands gegen koloniale und später neoliberale Kräfte. 

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Hier schreibt Amanda Piña über ihre Recherche in den Straßen von Matamoros für die Stückentwicklung von ›Frontera | Border‹, indigene Wurzeln, Narco-Poetik und die politische und soziale Kraft von Tanz.*

Rodrigo de la Torre, der Leadtänzer von ›Danza del Ejido 20 de Matamoros‹, verwendet als Metapher gerne Computerspiele, um zu erklären, wie der Tanz in den Straßen von Matamoros aufgeführt werden soll: »Zu Beginn von ›La Matraca‹ (›Maschinengewehr-Sequenz‹) bist du wie ein Rennwagen mit vollem Tank. Wie in einem Computerspiel. Während der Sequenz wird der Treibstoff verbraucht und am Ende der Sequenz ist der Tank völlig leer. Man muss mit seiner Energie während des Tanzes haushalten: Wenn du dich während einer Sequenz verausgabst, bist du am Ende jedes Mal tot, wenn du alles gegeben hast. Deshalb laufen wir nach der Sequenz, um den Tank wieder aufzufüllen. Nachdem so viele Tanks geleert und wieder aufgefüllt wurden, sind wir am Ende wie ›Mariguanos‹ (Marihuana-Raucher), ohne geraucht zu haben, der Tanz ist wie unsere Droge.«

Rodrigo nutzt starke Metaphern, um den Tanz zu beschreiben. Er wird im Grenzgebiet praktiziert, in dem die Gewalt, die aus dem Drogenhandel, der Militarisierung und der amerikanischen Medienkultur resultiert, täglich allgegenwärtig ist. (…) Dieser Tanz findet nicht in einem Theater statt, sondern auf den Straßen und Plätzen, und er ist keine Arbeit im Sinne einer ›professionellen‹ Tätigkeit. Man könnte ihn als ›traditionelle Kunstform‹ verstehen, doch Kategorien wie ›zeitgenössisch‹, ›modern‹ und ›traditionell‹ beschreiben seine Komplexität nicht annähernd. Im Verlauf dieses Tanzes, der nur von männlichen Mitgliedern der Arbeiterklasse praktiziert wird, entsteht etwas außerhalb der Tradition und des modernen bzw. zeitgenössischen Kanons der westlichen Kunst. (…) In der Tanzsequenz ›La Matraca‹ fungiert die Visualisierung des Rhythmus einer abfeuernden Schusswaffe als Beispiel für die Konstruktion einer neuen Mestizen-Körperlichkeit. (Anm.: Mestiz:in ist die Bezeichnung für Nachfahren von Europäer:innen und der indigenen Bevölkerung Lateinamerikas. Sie gilt als rassistisch und diskriminierend. Da jedoch keine Ausweichbezeichnung existiert, wird sie in bestimmten Kontexten noch verwendet.) Sie ist eine Form des Widerstands gegen einen gewalttätigen Grenzkontext, das Paradoxon eines globalisierten neoliberalen Kapitalismus, in dem die Zirkulation von Kapital und Waren auf die Stagnation trifft, die den Körpern der ethnisch definierten Menschen aufgezwungen wird.

»Irgendetwas wirklich Schlimmes muss diesen Männern passiert sein, um so tanzen zu können.«
– Leonor Maldonado, Filmemacher und Choreograph

In ihrem Buch ›Borderlands / La frontera: The New Mestiza‹ schreibt Gloria Anzaldua: “In the ethno-poetics and performance of the shaman, my people, the Indians, did not split the artistic from the functional, the sacred from the secular, art from everyday life. The religious, social and aesthetic purposes of art were all intertwined.”

Ich möchte versuchen, drei Dinge damit in Verbindung zu bringen: das Soziale, das Ästhetische und das Heilige aus der Perspektive des Körpers im ›Danza del Ejido 20 de Matamoros‹, wie er heute an der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten getanzt wird. Anschließend werde ich die zentralen Fragen skizzieren, die die Produktionen ›Danza y Frontera‹, die ich im Tanzquartier Wien im Oktober 2018 in Zusammenarbeit mit den Tänzern von Matamoros und Nicole Haitzinger entwickelt habe, sowie ›Frontera | Border – A living monument‹ im Auftrag des Kunstenfestivaldesarts 2020 und die soziale Skulptur ›Frontera Procesión‹ aufgeworfen haben. All diese Stücke entstanden im Zusammenhang mit dem vierten Teil der Studie ›Endangered Human Movements‹.

Der soziale Aspekt
Die Männer tanzen den Tanz von Matamoros in ihrer Freizeit, die meisten betrachten es als eine Art Hobby – als Freizeitbeschäftigung außerhalb der Arbeit in den Drogenkartellen oder der Maquila-Industrie, den beiden wichtigsten Wirtschaftszweigen in der Region. Als Maquila werden die Montage-Fabriken bezeichnet, die von multinationalen Unternehmen auf der mexikanischen Seite der Grenze zu den Vereinigten Staaten angesiedelt werden. Dies ist eine Industrie für billige Arbeitskräfte, denen die Bildung von Gewerkschaften ausdrücklich untersagt wird. Viele der Tänzer sind Mitglieder oder ehemalige Mitglieder des Kartells La Maña. Einige ziehen es vor, in der Maquila-Industrie zu arbeiten, wo sie in 12-Stunden-Schichten einen Lohn von etwa 50 Euro im Monat erhalten. Andere sind auf der Suche nach besseren Arbeitsbedingungen in die Vereinigten Staaten ausgewandert, wie im Fall von Rodrigo. Junge Männer aus der Arbeiterklasse sind oft als Sicarios, als Auftragsmörder für die Kartelle tätig, und selbst wenn sie es nicht sind, werden sie von der Gesellschaft als solche angesehen. 

»Wir tanzen, um etwas anderes zu sein als Maña, um etwas anderes zu sein als Sicarios.«
– Uriel Soria, genannt Koala, Schlagzeuger, Tänzer und Mitglied von Rigos Gruppe

Im Hinterhof von Rigos Haus finden die Proben statt, und die Männer treffen sich zum gemeinsamen Tanz. Die Choreographie wird meist unisono getanzt, wobei die Trommler auch als Chor fungieren. Wenn der Tanz auf der Straße aufgeführt wird, folgen die Tänzer den Handzeichen des Leadertänzers, um zu wissen, welche Sequenz als nächstes kommt. Gesellschaftlich gesehen ist der Tanz ein Raum der Einheit, des Gleichklangs, der Zeichensprache und der nonverbalen Kommunikation für eine andere Darstellung der Männlichkeit der Arbeiterklasse in der Öffentlichkeit. Man könnte den Tanz als einen Raum der brüderlichen Gemeinsamkeit interpretieren. Zur Findung der eigenen Identität werden die Rollen, die die jungen Männer anhand des sozialen Kontextes an der Grenze zugewiesen bekommen, unisono aufgeführt werden.

 

 

Die Ästhetik
Der dritte Einfluss, der sich im Tanz widerspiegelt, ist die angloamerikanische Medienkultur. Die Darstellung junger Männer aus der Arbeiterklasse in den Medien, die Ästhetik des ›Coolen‹ in der Hip-Hop-Kultur und in medialen Darstellungen wie Hollywood-Actionfilmen oder Computerspielen sind als Spuren im Tanz zu finden. Dieses Bestreben, cool zu erscheinen, hängt auch mit der Ästhetik der Chicanos zusammen. Den Gringo (Weißen) zu imitieren bedeutet, zu ihm zu werden, seine kulturellen Codes zu verschlingen und sich von der folkloristischen Idee des ›Mexikaners‹ zu distanzieren. Dies führte vor dem Hintergrund der Kolonialgeschichte zu rassistisch definierten Schemata, die in beiden Ländern nach wie vor präsent sind. 

»Wir wollten tanzen und in der Hood cool aussehen.«
– Uriel Soria

Auf die Frage nach ihren Kostümen sagt Rigo: »Wir wollten cool sein. Wenn wir die Huaraches und die Federn des Matachines-Tanzes anziehen würden, würden wir lächerlich aussehen und die Mädchen würden sich über uns lustig machen. Aber wir wollten trotzdem tanzen und wir wollten tanzen wie in der Hood, wie die bösen Jungs, die gefährlichen Jungs, die wir sein wollten. Also sind wir nach drüben in die Vereinigten Staaten gefahren, um Nikes und T-Shirts und Mützen zu kaufen, und wir haben die Kostüme und den Tanz verändert, um ihn zu etwas Eigenem zu machen.«

Dieses Gefühl der Coolness lässt sich auch an den Tanzbewegungen selbst ablesen – dicht am Boden, wie in einem Versteck. Wie Diebe oder Dealer aus der Nachbarschaft, die sich in den Ecken der Stadt verbergen. Die bodennahe Pose ist eine Haltung, die an indigene Tanzpraktiken erinnert, aber gleichermaßen auch afroamerikanische Merkmale wie ›on the ground beats‹ aufgreift. Sie tanzen wie Hip-Hop-Helden, wie Gangster, wie Mariguanos (Marihuana-Raucher).

Der Tanz könnte als Raum für ihre Identifikation mit jenen rassistischen Schemata interpretiert werden, die den ›Indians‹ und ›mestizos‹ durch die folkloristische Darstellung der Nation auferlegt wurden, sowie als ein Prozess geradezu kannibalischer Aneignung der Merkmale des Anderen.


Das Heilige 
Im alten Mexiko-Tenochtitlan hatten die beiden Wörter für Tanz, Macehualitztli und Netotilitztli, unterschiedliche Bedeutungen. Während Netotiliztli sich auf einfaches Tanzen bezog, bedeutete Macehualitztli auch, eine Art von Buße zu tun. Das Wort Macehua, die Wurzel von Macehualitztli, beschrieb einen mystischen Tanz. Durch das Tanzen erhielt man die Gaben und Gnaden der Gottheiten und heiligen Wesen, die die Welt bevölkern. Darüber hinaus wurde das Wort Macehualli verwendet, um die Mitglieder einer Klasse zu bezeichnen, die über den Sklaven und unter den Adligen stand. Macehualli leisteten Militärdienst, zahlten Steuern und arbeiteten im Kollektiv. Sie konnten Eigentum besitzen, freie Menschen heiraten, freie Kinder haben und relative Freiheit genießen. Sie hatten das Recht, ein Stück Land zu besitzen, solange sie es bewirtschafteten, das dann an ihre Kinder vererbt werden konnte, wenn sie es auf die gleiche Weise bearbeiteten. Sie durften es aber nicht veräußern oder als Pfand für ein anderes Gut zu geben, denn sie waren lediglich Nutznießer des Grundstücks.

Dieses System des Landbesitzes, calpulli genannt, ist die Wurzel der mexikanischen Ejidostruktur, die aus der Landreform während der Mexikanischen Revolution hervorging. Sie beschreibt eine spezifische Form des gemeinschaftlichen Landbesitzes bäuerlicher Gemeinden, bei der die Mitglieder der Gemeinschaft bestimmte Parzellen bewirtschaften und gemeinschaftliche Betriebe unterhalten. 

Matamoros ist ein Arbeiterviertel, das auf Ejido-Land errichtet wurde. In den Bewegungen des ›Danza del Ejido 20 de Matamoros‹ finden wir Spuren der heiligen und gemeinschaftlichen Funktionen, die der Tanz in vorspanischen, kolonialen und modernen Kontexten hatte. Kommunale Organisationen, die mit indigenen sozialen Strukturen vor dem Ejido verbunden waren, sind heute von der neoliberalen Logik der Ausbeutung, Rassifizierung und Kriminalisierung betroffen.

Als Formen des Widerstands sind Opfer und Liminalität zentrale Aspekte des Tanzes von Matamoros, der als Prozessionstanz soziale, religiöse und mestizische Pilgerriten zu heiligen Stätten begleitet, die heute im Kontext des Christentums stehen. Die Kontinuität der heiligen Stätten und Tempel, die von den Spaniern zerstört und später christianisiert wurden, aber an denselben Orten verblieben, ist gut dokumentiert. Es gibt auch eine Kontinuität der Tänze, die christianisiert wurden, aber weiterhin an denselben Orten und auf denselben Pilgerwegen aufgeführt wurden.

Bei diesen Prozessionen fungieren die Tänzer und Trommler als Unterstützer der Mitglieder der Gemeinschaft, die um die Gaben der Gottheit (in diesem Fall katholische Heilige) bitten oder sich für bereits gewährte Gunst bedanken. Die Hauptgottheit ist in diesem Fall eine Mestizin, die eine Kreolisierung der vorchristlichen weiblichen Gottheiten und der historischen Mutter Jesu, der Jungfrau von Guadalupe, verkörpert. »Wir tanzen für die Jungfrau von Guadalupe«, sagt ein anderes Mitglied der Tanzgruppe. »Sie soll uns also beschützen.«

Meine These wäre, dass der sakrale Aspekt des Tanzes als eine Form der Kontinuität der physiologischen (liminalen) Funktionen gelesen werden könnte, die indigene Tänze in der vorspanischen und kolonialen Zeit hatten. Diese liminalen Funktionen sind widerstandsfähiger als die wechselnden Ideologien und Machtstrukturen, die die Tänzer im Laufe der Geschichte zum Ausdruck bringen mussten.

Tänze an der Grenze innerhalb der Festung Europa
Die Performances von ›Danza y Frontera‹ sind eine Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Tänzern, die nicht aus dem Kunstkontext kommen und auch nicht aus Europa, um eine Reihe zu schaffen, die die Komplexität und die Verflechtung von Identitäten in einem Prozess der Desidentifikation berücksichtigen.

Dieser Prozess beschreibt die Dekonstruktion eines Modells, das auf einer dualistischen Logik beruht, wie zum Beispiel das Eigene und das Fremde, das Zivilisierte und das Barbarische, das Moderne und das Traditionelle, das Lokale und das Migrantische. In dem Konzept der Mestiza als Grenzsubjekt, das in mehr als einervielschichten Welt lebt, ist demnach kein Platz für binäre Identifikationen. 

Als Mestizin, die in Wien und Mexiko-Stadt lebt, bin ich mit der Art und Weise konfrontiert, wie ich als Latina wahrgenommen und identifiziert werde, als Migrantin in Europa und als Einheimische in Chile und Mexiko (ich besitze beide Nationalitäten). Diese zugewiesenen Identitäten sind nie vollständig oder rein. Als Künstlerin und Tänzerin werde ich in Europa als dunkelhäutig wahrgenommen, während ich in Mexiko als ›güerita‹, blasse Frau, wahrgenommen werde. Meine Identitäten sind vielschichtig. Es ist schwierig, sie in Kontexten vollständig zu verkörpern, in denen erwartet wird, dass man eine ist und nicht viele. In diesem Sinne ist das Mehr-als-eine-Sein, das Vielfältig-Sein, nicht den Formen der Repräsentation dienlich, mit denen eine einzige Perspektive vertreten und verkörpert werden soll, zum Beispiel nur einen Nationalstaat zu repräsentieren. Nur mexikanisch oder österreichisch oder chilenisch zu sein.

Zu einer Einheit zu werden, ist eine westliche Konstruktion der Einzigartigkeit, die in starkem Gegensatz zu indigenen Formen fließender und prozesshafter Identitäten steht und die sich stark auf das Konzept der nationalen Grenzen stützen. Diejenigen, die mehr als eine sind, die im Fluss sind, leben innerhalb und jenseits bestimmter konstruierter Grenzen. Man ist anders, je nachdem, auf welcher Seite der Grenzen man sich befindet. Man ist immer kontextabhängig. 

Das Bedürfnis, die Grenze zu überschreiten, entsteht durch die bloße Existenz einer Grenze; der Impuls der Menschen, sich zu bewegen, bestand schon vor der Grenze. Auf diese Weise wird der Versuch bekämpft, die menschliche Bewegung zu domestizieren, zu disziplinieren und zu normalisieren. Die Figuren des ›Migranten‹ und der ›Mestizin‹ werden durch die Politik der Migration oder der kolonialen Aneignung definiert. Als Metaphern führen diese beiden Figuren neue Modelle der Darstellung von Subjektivitäten jenseits einer binären Logik ein und schlagen eine Utopie der Heterotopie vor. Die Feier der vielfältigen Identitäten, die von Grenzsubjekten verkörpert werden, jenseits von Essenzialismus, findet in Anzalduas ›neuer Mestiza‹ einen Ausdruck, der die heteronormative, patriarchale Ordnung in Frage stellt. 

Von Amanda Piña

*Es handelt sich um eine gekürzte Fassung, hier ist der Originaltext in englischer Sprache veröffentlicht. 

»Es geht um Geld, Betrug, Moral und Gier«

»Wir sind alle ein Stück weit Hamster Edward«

Anke Retzlaff, Peter Florian Berndt und Paul Jumin Hoffmann über ihre Produktion ›Wofür es sich zu kämpfen lohnt‹, die bei asphalt 2022 Premiere feiert.
– 1. Juli 2022

Wie wollen wir leben? Und wie wollen wir sterben?

Helge Schmidt im Interview über »Die Krebsmafia«, den Zusammenhang zwischen Theater und Journalismus und welche Stoffe auf der Bühne noch Relevanz haben.

Wie bist du auf das Thema aufmerksam geworden?

Helge Schmidt: Ich habe mich mit [dem investigativen Journalisten] Oliver Schröm getroffen, um über die aktuellen Entwicklungen rund um Cum-Ex zu sprechen, worüber wir zwei Stücke gemacht haben. Im »gemütlichen Teil« des Gesprächs erzählte Oliver dann von neuen Informationen aus dem Bereich Onkologie, ich von meiner Suche nach einem neuen Thema für ein Stück. Und, ja, so einfach ist das dann manchmal – das eine kam zum anderen.

Was hat dich bei der Recherche am meisten überrascht? 

Helge Schmidt: Eindeutig das Ausmaß. Das Buch »Die Krebsmafia« beginnt mit, salopp gesagt, Steuertricks, an die man sich ja eigentlich längst gewöhnt hat. Aber dann wird es immer größer. Apotheker:innen sind beteiligt, Ärzt:innen. Die Halbgötter in Weiß. Patient:innen sterben, Menschenleben werden riskiert. Und das ist für mich der krasseste Unterschied zu den Steuerthemen, die mich zuletzt begleitet haben. Die Opfer sind bei der »Krebsmafia« nicht abstrakt. Es ist nicht »Der Steuerzahler«, der hier geschädigt wird. Sondern Siegmar Bogen und der ist tot.

Krebs ist ja kein Thema, mit dem man sich gern beschäftigt. Was erhoffst du dir für diesen Theaterabend?

Helge Schmidt: Natürlich geht es in dem Abend um Krebs. Aber die eigentliche Frage ist ja: Wie kann es sein, dass wir kein System erschaffen haben, in dem Patient:innen die beste Medizin und die fürsorglichste Betreuung bekommen – sondern einen Markt, der Kranke als »Kunden« bezeichnet und Gesundheit zur Ware macht. Es geht dann schon darum, ganz bodenständig aufzuklären, aber »nur« das wäre vielleicht auch zu wenig. Mich interessiert die systemische Dimension und nicht der Skandal. Das unterscheidet Theater dann auch fundamental von investigativem Journalismus. Wir teilen eine Zeit und einen Raum mit dem Publikum. Und dieses Teilen von Raum und Zeit ist eine demokratische Erfahrung. In dem Raum wollen wir die Frage verhandeln: Wie wollen leben? Und auch: Wie wollen wir sterben?

Warum wählst du so oft die ganz großen Themen?

Helge Schmidt: Ich finde, dass die großen gesellschaftlichen Themen, die ich auf die Bühne gebracht habe, Potenziale haben, Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen, die unterschiedlichen Bubbles entspringen. Ob Konservative, Liberale oder Linke – die meisten lehnen ab, dass finanzielle Interessen Einzelner über Leben und Tod von Krebskranken stehen. Wir haben in unseren Produktionen die Erfahrung gemacht, dass unterschiedliche Milieus mit Entwicklungen unserer Gesellschaft unzufrieden sind und darüber reden wollen. Und dazu möchten wir einladen.

Du hast Dich in den vergangenen Jahren geradezu darauf spezialisiert, journalistische Recherchen zu komplexen gesellschaftlichen Themen bühnentauglich zu machen. Was gefällt dir daran?

Helge Schmidt: Ich denke, dass sowohl der Journalismus als auch die geförderten Bühnen in einer andauernden fundamentalen Krise stecken. Der Journalismus verliert Aufmerksamkeit an digitale Konkurrenz. Als Antwort darauf ist ein Reflex entstanden, sich in Clickbaits zu stürzen. Die Schlagzeile dominiert die Story. Dem Theater fehlt es an neuem (jüngeren) und diverserem Publikum. Es hat Reformen und Erneuerungen um Jahrzehnte verschlafen. Statt diese endlich anzugehen, verliert man sich in Ersatzdebatten, um die immer gleichen Privilegien zu schützen. Das Publikum spürt das und verliert noch einmal das Interesse. Ich denke, dass Journalismus und Theater einander etwas zu bieten haben. Journalist:innen haben Themen und Texte, die Menschen interessieren. Theater haben Formen, Ästhetiken und Räume, die es erlauben, Geschichten jenseits von News und »Ist das krass« erlauben.

Siehst du ein verbindendes Element zwischen den Stücken »Cum-Ex Papers«, »Tax for free« und »Die Krebsmafia«?

Helge Schmidt: Wir versuchen in allen drei Stücken unsere kleinen Analysen von Ausschnitten der Gesellschaft zu liefern: erst Wirtschaft, dann Politik und nun das Gesundheitswesen. Neben inhaltlichen und motivischen Verbindungen – es geht in allen um Geld, Betrug, Moral und Gier – entsteht die Verbindung für mich im Publikum. Wir wollen was von denen und wir haben was zu erzählen.

Oliver Schröm wurde für seine Arbeit verklagt – hast du Sorge, dass dir das auch passieren könnte?

Helge Schmidt: Ich hoffe darauf, dass Theater nicht relevant genug ist, um mit Anwält:innen Aufmerksamkeit zu generieren, die wir sonst gar nicht bekommen können. Aber jenseits der finanziellen Risiken von Prozessen wäre es natürlich interessant zu wissen, wie Gerichte die Kunstfreiheit beim Umgang mit journalistischen Themen schützen würden. Das ist ja keine ganz gewöhnliche Kunst. Und die Leute, um die es bei uns geht, sind ja zum Glück auch eher Kunstmäzen:innen als Kunstverhinderer:innen.

Das Interview führte Dramaturgin Franziska Bulban.

Regisseur Helge Schmidt (*1983 in Schwerin) studierte in München Theaterwissenschaft, Psychologie und Neuere Deutsche Literatur. Er war Regieassistent am Thalia Theater Hamburg, seit der Spielzeit 2014/15 arbeitet er als freier Regisseur. Die 2018 mit dem Recherche-Kollektiv CORRECTIV entstandenen »Cum-Ex Papers« wurden mit dem Deutschen Theaterpreis DER FAUST ausgezeichnet. Seine Arbeiten wurden mehrfach zu Festivals eingeladen.

ALL IN – Internationales Symposium

»Wir sind alle ein Stück weit Hamster Edward«

Anke Retzlaff, Peter Florian Berndt und Paul Jumin Hoffmann über ihre Produktion ›Wofür es sich zu kämpfen lohnt‹, die bei asphalt 2022 Premiere feiert.
– 1. Juli 2022

Um diese und andere Fragen wird es im international besetzen Symposium »ALL IN 2022 – Der Theaterbetrieb und die darstellenden Künste« am 24. Juni 2022 in Düsseldorf gehen. Bereits zum vierten Mal veranstalten Un-Label – Performing Arts Company und kubia, das Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter und Inklusion, das Symposium ALL IN gemeinsam, diesmal in Kooperation mit dem asphalt Festival und dem Düsseldorfer Schauspielhaus.

Foto: Martina Marini-Misterioso

Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, und Isabel Pfeiffer-Poensgen, Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, eröffnen das hochkarätig besetzte Diskurs- und Workshop-Programm. In Vorträgen, Werkausschnitten, Gesprächsrunden und Workshops im Düsseldorfer Schauspielhaus und im Central am Hauptbahnhof zeigen Theaterschaffende aus dem In- und Ausland, welche Ansätze gut funktionieren, damit zum Beispiel Schauspieler:innen mit und ohne Behinderung gleichberechtigt zusammenarbeiten können. Bei ALL IN erhalten Theaterleute aus den Bereichen Regie, Dramaturgie, Technik, Kostüm und Ausstattung Anregungen für ihre eigene Arbeit. Ebenso angesprochen sind Menschen, die in Kulturorganisationen, Wissenschaft, Kulturverwaltung oder Kulturpolitik arbeiten.

Die britische Dramaturgin Kaite O´Reilly spricht in ihrer Key Note über das Potenzial der Gleichstellung von Schauspieler:innen mit Behinderung für die ästhetische und strukturelle Fortentwicklung von Bühnenschaffen. Wie das konkret aussehen kann, zeigen Rimini Protokoll und die Münchner Kammerspiele ausgehend von den Produktionen »Chinchilla Arschloch, waswas« und »Effingers« – das Tourette-Stück »Chinchilla Arschloch, waswas« war im vergangenen Jahr beim asphalt Festival zu sehen.

Anschließend sprechen Vertreter:innen des Düsseldorfer Schauspielhauses und Inklusions-Berater:innen von Access Maker über Fragen des Strukturwandels für den Theaterbetrieb. In Workshops am Nachmittag geht es dann um alternative Dramaturgie-Ansätze und gleichberechtigte Formen der Zusammenarbeit von Schauspieler:innen mit und ohne Behinderung, um Kostüme und Bühnenbilder für diverse Körper und digitale Übersetzungsverfahren von Bewegung in Klang und Klang in Bilder, ebenso wie um individuelle Lösungen technischer Barrierefreiheit und die Erarbeitung von Live-Audiodeskriptionen und Touch Tours.

Das komplette Programm des Symposiums findet in architektonisch barrierefreien Räumen statt. Für das Diskursprogramm werden – auch im Live-Stream – Simultanübersetzungen Englisch-Deutsch und in Deutsche Gebärdensprache (DGS) sowie eine Audiodeskription angeboten. Bei den Workshops stehen Simultanübersetzungen Englisch-Deutsch und in DGS nach vorheriger Anmeldung zur Verfügung.

Zusätzlich werden persönliche Assistent:innen zur individuellen Unterstützung von Teilnehmenden eingesetzt und die Veranstalter stellen bei Bedarf für Menschen mit Mobilitätseinschränkung einen Shuttle Service zwischen den Workshop-Räumlichkeiten bereit.

Gesamtprogramm des Symposiums unter un-label.eu

 

Das Abendprogramm des Symposiums findet auf dem asphalt-Festivalgelände der Alten Farbwerke statt, im Festival-Biergarten laden wir zu einem »Meet & Greet« ein. Es gibt Konzerte einer Jazzband und eines Techno-Jazz-Ensembles by Un-Label (Eintritt frei), außerdem können die Symposium-Gäste das Stück SCORES THAT SHAPED OUR FRIENDSHIP besuchen. Für die Produktion bieten wir Audiodeskription und Simultanübersetzung in DGS an. Das musikalische Programm wird reaktiv visualisiert.

Tickets für das Symposium sind hier erhältlich: https://bit.ly/tickets_allin_symposium (Anmeldefrist: 21.06.2022)

Tickets für den Livestream zum Symposium gibt es hier: https://bit.ly/tickets_allin_livestream

Tickets für die Performances SCORES THAT SHAPED OUR FRIENDSHIP gibt es im asphalt-Webshop zum Preis von 24 € / 12 € ermäßigt, der Eintritt für Assistent:innen ist frei.

Gefördert vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW im Rahmen des Projektes Un-Label Music and Sound Department. 

Statement des Deutschen Bühnenvereins

»Wir sind alle ein Stück weit Hamster Edward«

Anke Retzlaff, Peter Florian Berndt und Paul Jumin Hoffmann über ihre Produktion ›Wofür es sich zu kämpfen lohnt‹, die bei asphalt 2022 Premiere feiert.
– 1. Juli 2022

Der russische Angriff auf die Ukraine ist ein schockierender Verstoß gegen die europäische Friedensordnung der letzten Jahrzehnte. Der Bundeskanzler hat Recht, wenn er von einem »eklatanten Bruch des Völkerrechts« spricht. Bis zuletzt haben auch die Mitglieder des Deutschen Bühnenvereins gehofft, dass Vernunft einzieht und eine Lösung des mutwillig herbeigeführten Konflikts auf diplomatischem Wege möglich bleibt. Diese Hoffnungen auf die Kraft des Friedens und des Gesprächs sind durch die heutige Entscheidung des russischen Präsidenten bitter enttäuscht worden.

Der von Russland begonnene Krieg dient offensichtlich nicht nur russischen Machtbestrebungen, sondern zielt erkennbar auch ganz grundsätzlich auf die Idee einer offenen und freien Gesellschaft in der Ukraine, auf die Möglichkeiten für Kunst und Kultur, sich überall auf der Welt frei zu entfalten und auf den Wunsch vieler in Vielfalt und Frieden miteinander leben zu können.

Der Deutsche Bühnenverein steht solidarisch zu all jenen, die weiter fest an diese Möglichkeiten eines vielfältigen und friedlichen Miteinanders, an die Kraft der Kunst und die befriedende Wirkung der Kultur glauben und die jetzt dafür streiten müssen. In der Ukraine, aber auch in der russischen Zivilgesellschaft. Es gibt viele gute Beispiele, wie gerade kultureller Austausch und künstlerische Zusammenarbeit über Grenzen hinweg die Grundlage für Frieden und Verständigung schaffen können. Wir werden alles uns Mögliche dafür tun, dass diese Bemühungen weitergehen, dass Zusammenarbeit der Friedfertigen möglich bleibt und dafür auch die Mittel der Kunst und der Kultur genutzt werden können. Heute aber ist ein schwarzer Tag für Europa. Wir werden für Aufklärung streiten müssen.

Carsten Brosda, Präsident des Deutschen Bühnenvereins
Köln, 24.2.2022

Tourette auf der Bühne

»Wir sind alle ein Stück weit Hamster Edward«

Anke Retzlaff, Peter Florian Berndt und Paul Jumin Hoffmann über ihre Produktion ›Wofür es sich zu kämpfen lohnt‹, die bei asphalt 2022 Premiere feiert.
– 1. Juli 2022

Chinchilla Arschloch, waswas ist zu Gast beim asphalt Festival am 8. und 9. Juli 2021 im Central am Hauptbahnhof.

Helgard Haug  Foto Hanna Lippmann

Christof Seeger-Zurmühlen: Tourette und Theater – das ist nicht gerade eine naheliegende Kombination. Wie kam es zu diesem Stück? Stand das Thema Tourette am Anfang oder gab es eine Begegnung, die euch inspiriert hat?

Helgard Haug: In dem Fall war es eine Begegnung. Ich habe Christian Hempel kennengelernt bei Recherchen für ein anderes Stück, ›brain projects‹, bei dem wir uns mit dem Gehirn auseinander gesetzt haben. Schon bei der ersten Begegnung hat mich seine unglaublich reflektierte Art beeindruckt, über Tourette zu sprechen. Auch das Selbstbewusstsein, was da aufleuchtet. Lange war er mit der Formel »Ich ticke, deshalb bin ich« unterwegs. Er hat starke vokale Tics. Oberflächlich könnte man sagen, das sind die Menschen, die so Fäkalien rufen oder irgendwie schimpfen. Das ist bei ihm auch so, wobei er da wahnsinnig kreativ ist. Er hat aber auch starke motorische Ticks. Dadurch ist er immer exponiert und muss sich ständig erklären. Und das führte dazu, dass er sich in den letzten Jahren sehr zurückgezogen hat. Und das fand ich spannend im Zusammenhang mit Theater und der Frage von Präsenz, wie man sich gegenseitig aushält und wie kalkulierbar man ist.

Auf meine Frage, ob er sich vorstellen könne bei dem Stück mitzumachen, gab Christian eine kategorische Antwort: »Nein, auf keinen Fall!« Er ist dann aber doch einmal zu einer Probe nach Hamburg gekommen. Das war wahnsinnig aufregend. Es galt zu vermeiden, dass er die Wegstrecke zwischen Parkhaus und Theater, das sich direkt am Hauptbahnhof befindet, zu Fuß zurücklegt: Strich mit Drogenszene und Obdachlosen … – sein Tourette reflektiert das, was es sieht, es nimmt es auf, thematisiert, verdreht, kommentiert es lautstark. Es darf nicht als wertender Kommentar verstanden werden, aber es findet sehr schnell heraus, was nicht geht, was eigentlich nicht gesagt werden darf – die Tabus. Und das wird dann ganz laut herausgeschrien. Und in manchen Situationen bleibt dann auch keine Zeit mehr für Erläuterungen – deshalb liegt in jeder Begegnung auch die Gefahr eines Missverständnisses.

Ich habe ihn dann gefragt, ob wir nicht mal eine Reise durch Deutschland machen können. Also was macht das Tourette, wenn man bei einer Kirche, auf einer Autobahnraststätte, auf einer Wahlkampfveranstaltung, am Meer ist? Was passiert da? Diese Idee bekam den Arbeitstitel ›Deutschlandreise‹. Ich dachte: Lass Tourette mal Deutschland kommentieren. Und das haben wir gemacht. Wir sind nach Berlin gereist und haben dort auch den Politiker Bijan Kaffenberger getroffen, der ja auch mitspielt, und der sich in die gegenteilige Richtung bewegt hat. Er stellt sich in den Mittelpunkt und sagt ganz stark: Ich bin in der Öffentlichkeit und Tourette zeichnet mich auch aus, macht mich einmalig, er dreht den Spieß also um. Aus dieser Fahrt und den Begegnungen und Erlebnissen ist ein Hörspiel geworden. Es hat mich fasziniert, wie kreativ Tourette sein kann, wie wortwitzig und humorvoll.

Und nach den sehr positiven Erlebnissen der Hörspielarbeit – bei der wir ja auch ausgelotet haben, wie Christian dargestellt wird – hat er sich dann doch auf das Experiment eines Auftritts auf dem Theater eingelassen. »Vielleicht sind es auch nur fünf Minuten«, haben wir zur Beruhigung immer wieder gesagt. Und so haben wir uns da Stück für Stück gemeinsam vorgewagt.

Dann habe ich Bijan noch dazu geladen – der anfangs nicht wusste, ob er sich wirklich die benötigte Zeit nehmen kann. Und in Frankfurt haben wir Benjamin Jürgens kennengelernt. Er leitet eine Selbsthilfegruppe, hat noch mal eine ganz andere Form von Tourette und einen anderen Umgang damit. So entstand der Gedanke, mit diesen drei Männern an drei Modulen zu arbeiten und das möglichst alles immer offenzuhalten, so dass wir das Stück auch spielen können, wenn mal einer nicht mag oder kann oder die Tics einfach zu stark sind.

Es war klar, dass Barbara Morgenstern die Musik macht. Und dann wurde auch immer klarer, dass sie auch als Performerin auftritt, dass sie auch diejenige sein könnte, die auf der Bühne reagieren kann, wenn was ist. Und dass man Spielregeln erfindet, die einem ermöglichen, diese Offenheit zu behalten.

Sowohl die Offerte an Christian als auch den ersten Korb als auch die Entscheidung, dann doch zu spielen, erzählen wir auch in dem Stück. Weil es eben so stark darum geht zu sagen: Was braucht es eigentlich bis zu dem Moment, wenn Christian mit seinem Bus auf die Bühne fährt oder mit einem Fahrrad oder wie auch immer die Gegebenheiten sind? Wie lang ist eigentlich der Weg dorthin? Und wie selbstverständlich machen wir die Tür auf und stehen auf einer Bühne? Und was muss eigentlich bedacht werden, damit Christian das überhaupt kann? Also ohne, dass er sich verletzt oder andere verletzt oder was kaputt geht oder Irritationen entstehen oder sozusagen mentale Verletzungen entstehen?

Christof Seeger-Zurmühlen: Ist es jedes Mal eine anderer Abend?

Helgard Haug: Ja, aber weniger radikal, als ich das anfangs dachte. Es gab so viele Überlegungen und Vorbereitungen, wie man damit umgeht. Und letztendlich wurde im Probenprozess klar, dass Festlegungen wichtig sind: Je fester und klarer die Struktur ist, desto besser konnten die Protagonisten damit bei den Proben umgehen. Und ab einem bestimmten Punkt wurde das sehr stark eingefordert. Die Wiederholbarkeit war dann sozusagen leichter als das Offene. Zu improvisieren oder mal etwas auszuprobieren, das ist mit ganz vielen Ängsten belegt. Und trotzdem – dazwischen schwingt natürlich dieses Tourette, das macht, was es will. Also ja: Jeder Abend ist anders. Es ist ein Stück, bei dem wirklich jeder Abend einen eigenen Charakter hat.

Christof Seeger-Zurmühlen: Wie lang hat der Prozess gedauert, bis dann wirklich ein Stück dabei heraus kam?

Helgard Haug: Von der ersten Begegnung bis zur Uraufführung: zwei Jahre. Aber die Proben waren mit drei Wochen recht kurz.

Christof Seeger-Zurmühlen: Und stellen sich die Spieler inzwischen immer noch die Frage: »Ich weiß noch nicht, ob ich es heute tue?«

Helgard Haug: Nee, jetzt wollen natürlich alle auf die Bühne! Also das ist ja das Berauschende am Theater, dass es alles möglich macht. Die große Erkenntnis ist ja: Es geht! Ich glaube, die spielen das wahnsinnig gerne, und es macht Spaß. Die Arbeit war auch extrem heiter. Es gab so viele witzige Momente und eine große Leichtigkeit beim Entwickeln des Stücks. Da haben wir alle ganz viel von mitgenommen.

Christof Seeger-Zurmühlen: Der Humor ist die große Qualität der Inszenierung. Das ist wunderschön. Ich habe den Eindruck, dass im Erzählen auch eine gewisse Erleichterung entsteht. Welche Erfahrungen habt ihr mit dem Publikum gemacht?

Helgard Haug: Also die Ausgangslage des Stücks ist ja vorher kommuniziert, aber dennoch spürt man zu anfangs auch die Anspannung und Unsicherheit des Publikums: In welchem Verhältnis stehen wir hier? Darf ich lachen? Und dann, irgendwann, wird ein Pakt geschlossen, und von da an schwingt sich das wirklich frei, denn die Spielregeln sind geklärt. Und dann kann man natürlich auch alle Akkorde bespielen.

Christof Seeger-Zurmühlen: Hat sich auch an der Zusammensetzung des Publikums etwas verschoben? Entsteht durch das Stück ein Empowerment für andere Menschen, die Tourette haben?

Helgard Haug: Es ist eine offene Einladung. Wir versuchen vorher immer Kontakt aufzunehmen mit Gruppen vor Ort. Es ist auch so, dass die Überlegung, wie man jemandem mit Tourette ermöglicht auf die Bühne zu kommen, sich fortspinnt in der Frage, wie man jemandem mit Tourette oder mit anderen Zwangskrankheiten ermöglicht im Publikum zu sein. Muss man vielleicht dieses genormte Sitzen überdenken, muss man andere Sitzmöglichkeiten anbieten? Wir haben uns da ein bisschen orientiert an Relaxed-Performances-Regeln und das auch angeboten. In Frankfurt gab es Aufführungen, in denen bestimmt sechs oder sieben Leute mit Tourette waren. Benjamin tict ganz viele Tierlaute, also er pfeift und miaut zum Beispiel. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sich das Theater in einen Wald verwandelt hat, weil die Tourette-Besucher die Tics erwidert haben. Ein wirklich schönes Konzert! Man ist das ja anders gewohnt, und ich finde diesen totalen Fokus und diese gebündelte Konzentration im Theater auch wirklich toll. Aber in dem Stück ist das anders. Es fängt an zu wuchern und macht eben nicht halt vor dem Zuschauerraum.

Christof Seeger-Zurmühlen: Die Frage ist natürlich, wie inklusiv denkt oder ist unsere Gesellschaft?

Helgard Haug: Je mehr du weißt, je mehr Erfahrungen du sammelst mit Menschen, die die Norm brechen: umso besser. Wenn wir uns außerhalb der Schutzräume befinden, sagt Christian meist: »Keine Absicht, ist Tourette!« Das ist super. Christian macht sich diese Mühe, aber es ist für ihn tatsächlich auch eine Mühe. Es nervt, sich ständig erklären zu müssen, klar, aber ich finde, es lohnt sich. Auf diese Weise kann man von beiden Seiten aufeinander zugehen. Ich finde es gut, nicht nur zu erwarten, dass die Normalos das alles von sich aus kapieren. Und dann klappt es auch irgendwie und die Situation verwandelt sich in etwas Liebe- und Humorvolles.

Mit dem Körper Experimente machen

»Wir sind alle ein Stück weit Hamster Edward«

Anke Retzlaff, Peter Florian Berndt und Paul Jumin Hoffmann über ihre Produktion ›Wofür es sich zu kämpfen lohnt‹, die bei asphalt 2022 Premiere feiert.
– 1. Juli 2022

TANZ von Florentina Holzinger, eine Koproduktion des asphalt Festivals, ist am 30. Juni, 1. und 2. Juli im D’haus Central zu sehen. Die Produktion ist eines der meistprämierten Stücke im deutschsprachigen Raum 2020: Es wurde u. a. zum Theatertreffen eingeladen, in der Kritikerumfrage von ›Theater heute‹ zur Inszenierung des Jahres gekürt und war für den deutschen Theaterpreis ›Der Faust‹ nominiert. Zudem erhielt Holzinger den Nestroypreis für die beste Regie.

Christof Seeger-Zurmühlen: Welche Themen stehen bei der Produktion TANZ im Fokus?

Florentina Holzinger: Es geht spezifisch um das romantische Ballett und die Repräsentation von Weiblichkeit auf der Bühne. Ich habe einen relativ großen Cast an Frauen aus unterschiedlichen Disziplinen um mich – im Gegensatz zu den Arbeiten davor, die hauptsächlich Duette waren.

Christof Seeger-Zurmühlen: Sprichst Du damit auch das Thema Repräsentation von Frauen auf der Bühne an?

Florentina Holzinger: Ich versuche mich wirklich abzusetzen von diesem Wort ›Frau‹, auch weil uns das ein bisschen angehängt wurde, dieses ›Frauen-Feminismus-Label‹, was kein schlechtes ist. Aber mir geht es eher um Konstruktion von weiblicher Identität als darum, nur Frauen auf der Bühne zu haben. Das wird oft in einen Zusammenhang gesetzt mit dem, dass wir uns männlich dominierten Dingen annähern, wie zum Beispiel dem Gewichtheben in der Produktion ›Apollon‹. Ich stehe dem etwas kritisch gegenüber, das so in einen Topf zu werfen, weil wir ja alle in einer Zeit aufgewachsen sind, in der solche Sachen eben jenseits von Geschlecht existieren können und auch sogar im Mainstream schon viel akzeptiert sind. Im Moment drücke ich es gerne so aus, dass wir uns mit der Konstruktion von Weiblichkeit auf der Bühne beschäftigen und nicht mit Frausein an sich – weil: Was bedeutet das schon?

Christof Seeger-Zurmühlen: Geht es dabei darum, gesellschaftliche Konstruktionen zu hinterfragen?

Florentina Holzinger: Ja, genau. Geschlecht ist nicht zwangsläufig etwas, mit dem man geboren wird, sondern es ist eigentlich eine gesellschaftliche Konstruktion, durch die man in gewisse Muster reingesteckt wird oder reinfällt. Das traditionellere Theater ist auch voll von diesen Mustern, und wir setzen uns auf der Bühne damit auseinander. Deswegen nehme ich mich gerne Traditionellem wie dem Ballett an, weil hier das Verhältnis so schwarz-weiß ist. Ich frage mich: Auch wenn wir jetzt in dieser Zeit leben und alle ein sehr offenes Geschlechterverständnis haben – wie können denn solche Kunstformen noch auf den klassischen Bühnen oder den Opernhäusern stattfinden, ohne kommentiert zu werden? Und deswegen habe ich mich des Kommentars angenommen.

Christof Seeger-Zurmühlen: Also ist der Ansatz, Traditionen kritisch zu hinterfragen, die sich über die Jahrzehnte, Jahrhunderte entwickelt haben?

Florentina Holzinger: Ich nenne es gerne ›Analyse‹. Mich interessieren Mechanismen und Transparenz im Allgemeinen. Daher kommt auch die Faszination für das Ballett: dass die Dinge, die normalerweise nicht vor dem Auge des Betrachters erscheinen, in Erscheinung treten sollen, dass man die wirklich beleuchtet. Und dazu gehört bei einer Tänzerin zum Beispiel das Training, um ihre Form zu erreichen. Oder das Training, das ein Sportler macht, um eine gewisse Form zu erreichen. Das sind alles Konstrukte von Körpern, und es lockt mich, die zu analysieren und da gewisse Themen herauszuarbeiten. Gerade beim Ballett wird immer mit der Illusion geliebäugelt und so Dingen wie Schwerelosigkeit und diesen ganzen Konzepten. Es hat mich bei TANZ interessiert, transparent zu machen, was die Übung dafür ist. Es geht aber nicht nur um Kritik im Sinne von einer Betrachtung aus einem negativen Standpunkt heraus, also wie zum Beispiel das klassische Ballett den weiblichen Körper zugerichtet hat, sondern dass man das auch trotzdem als eine lustvolle Beschäftigung sehen kann. Und für mich ist genau dieses Thema interessant: die Selbstkontrolle der Tänzerin. Ein sehr komplexes Thema, gerade in der derzeitigen Diskussion. Da geht es etwa darum, wie man für sich selbst Entscheidungen treffen kann, also in Bezug auf die eigene Praxis, aber auch wie man seinen Körper präsentieren will oder mit diesem umgehen will. Also wer sagt einem jetzt, dass man den Körper nicht auf so eine Art und Weise disziplinieren kann, weil es nicht gesund ist? Und nehmen wir auch die Arbeit auf der Bühne: Da ist für die von außen schauende Person nie wirklich transparent, was jetzt die notwendigen Schritte sind, die jemand tut, um wohin zu kommen und ob das für diese Person ein gutes Erlebnis war oder ein schlechtes. Es sagt nichts über die Konditionen aus, unter denen die Stücke produziert wurden. Das sind Sachen, mit denen wir gerne spielerisch umgehen.

Christof Seeger-Zurmühlen: Du lässt Dich zunächst von Menschen aus unterschiedlichen Szenen wie Tattooing, Piercing oder Branding inspirieren. Wie entsteht dann ein künstlerisches Konzept?

Florentina Holzinger: ›Apollon‹ war dafür ein klassisches Beispiel. Ich habe mir diese ›Sideshows‹ auf Coney Island angeschaut. Wo Leute so Dinge machen, die schockieren sollen und die auch viel mit Schmerz verbunden sind. Für mich war völlig klar, dass da nicht wirklich viel Unterschied ist zwischen der Arbeit dieser Pain Artists und dem, was eine klassische Ballerina mit ihrem Körper macht. Natürlich nicht im Sinne von gewaltverherrlichend, aber dass das einfach nur eine gewisse Art ist, den Körper so zu trainieren, dass er imstande ist, solche Sachen auszuführen, die für Ottonormalverbraucher unerreichbar scheinen – aber eben auch nur scheinen.

Christof Seeger-Zurmühlen: Im Endeffekt hast du völlig recht. Wenn ich ein:e Leistungssportler:in bin, meinen Körper diszipliniere und dann durch die Wüste renne, einen Marathon mache, oder was auch immer, dann muss ich mich ja unglaublich fokussieren, konzentrieren. Ich nehme an, das machen deine Künstlerinnen auch, wenn sie Ringe in den Körper implantiert bekommen und daran hochgezogen werden. Ich kann dabei zusehen, unter welcher Spannung und Konzentration das abläuft. Meinst du dieses Phänomen, wenn Du von Disziplin sprichst und wie weit man durch spezielles Training gehen kann? Du kannst deinem Körper sehr viel zumuten, mehr, als wir manchmal glauben?

Florentina Holzinger: Ja, das ist die Macht im Training oder das ist der Sinn und Zweck von Training – im Falle von Ballett, aber sogar von diesen ›Sideshow‹-Sachen. Das sind gewisse Arten von Techniken, die teilweise wirklich schon über Jahrhunderte entwickelt wurden und die man lernen kann. Dabei geht es darum, den Körper an gewisse Dinge anzunähern. Sport ist da am explizitesten, wenn man sich das Training von einem Sportler anschaut. Ich will aber nicht über die Grenze gehen, sondern ich will die Grenze verschieben – so, dass es eben auch möglich ist, andere Sachen mit dem Körper zu machen. Das mit der Suspension ist jetzt natürlich ein bisschen eine andere Story, weil das nicht etwas ist, das man physisch jeden Tag trainiert, sondern das ist eher eine mentale Vorbereitung, würde ich sagen.

Christof Seeger-Zurmühlen: Ein kluger Mensch hat mal gesagt: Kontakt entsteht auf der Grenze. Fängt es da an für dich interessant zu werden?

Florentina Holzinger: Mir ist nicht so ganz klar, was genau diese Grenze sein soll, weil diese Grenze ja keine fixe Linie ist. Aber ja, das war schon immer mein persönliches Interesse, gerade in Bezug auf den Körper einer Tänzerin: Wie kann man mehr sein als nur diese physische Schale? Und wie kann man auch Tanz dafür nutzen, dass man da mehr wird als jetzt nur der Körper? Es geht um dieses »We lead to take it serious to be more than human in a certain way, or to attempt to be more than human« – was mit der Sinnfrage des Lebens zusammenhängt, nehme ich an. Am ›Kunst machen‹ ist schon interessant, dass man seine Fantasie dahingehend entwickeln kann: Ja, da ist mehr!

Christof Seeger-Zurmühlen: Absolut. Es hört sich danach an, dass du nicht über Technik arbeitest, sondern ganz stark nach Impulsen suchst, die durch Improvisation in Aktion treten, die Du Dir vorher nicht überlegen kannst. Bist du eine Choreografin, die aus dem Moment heraus entwickelt und inszeniert?

Florentina Holzinger: Ich bin schon ein Fan von Technik. Und als Choreografin liebe ich an sich schon den formellen Zugang. Auch wenn das vielleicht nicht so wirkt für Leute, die meine Shows sehen, ist da eigentlich recht wenig improvisiert. Und es geht mir schon sehr viel um Komposition.

Christof Seeger-Zurmühlen: Etwas ganz Existentielles in deinen Arbeiten ist die Berührung, dass man den Körper des anderen umarmt. Deswegen meine Frage an der Stelle: Wie sehr hat dieser Kontakt gefehlt, wie sehr fehlt er zurzeit? Wie arbeitet ihr konkret? Und auf der anderen Seite: Wie sehr fehlt der Kontakt zum Publikum, wenn wir über Kontakt sprechen?

Florentina Holzinger: Grundsätzlich ist es so, dass ich diese Covid-Pause als eine gewisse Art von Pause verstehe. Eigentlich habe ich das immer in meinem Arbeitsrhythmus, diese extrem sozial geballten Zeiten, die sich abwechseln mit Phasen von Loneliness und Rückzug. Das war jetzt aber eine ausgesprochen lange Phase. Und am beunruhigendsten war, dass man eben nicht wusste: Ist das eine Pause oder ist das jetzt der Dauerzustand? Aber das mit dieser Kontaktlosigkeit, das ist mir sowieso schon als Arbeitsrhythmus oft ganz recht. Zwischendurch bin ich gerne über eine gewisse Periode so richtig sozial unterernährt, damit ich es dann wieder cool finden kann, mit Leuten so intensiv zusammenzuarbeiten. Jetzt gerade bin ich seit einem Monat wieder voll in den Proben drin, und das hat mir schon extrem getaugt, muss ich sagen, wieder so mit anderen Körpern Experimente zu machen. Das ist die Arbeit, die ich mache. Wir kommen gemeinsam ins Studio, ich habe gewisse Sachen vorbereitet, die ich ausprobieren will und die ich selbst auch noch nie ausprobiert habe. Und dann experimentieren wir und probieren Sachen aus. Dinge, die ich mir überlegt habe in meiner Einsamkeitsphase, die bekommen dann Körper, und das finde ich extrem cool. Eigentlich noch wichtiger als die Shows, die man dann hat. Diese Probephase mit anderen Leuten habe ich schon vermisst. Und im Moment, hier in Österreich zumindest, ist es so, dass Proben wie normal ablaufen, wir können alles machen. Deswegen ist man dann sehr schnell wieder in seinem normalen Arbeitsrhythmus, der immer schon ein Ausnahmezustand war. Da hat man gewisse Regeln, die man befolgt, um eben außergewöhnliche Sachen machen zu können mit anderen Leuten. Und ob das jetzt mit Covid ist oder ohne, da kommen dann einfach noch andere Regeln dazu. Das macht nicht so einen Unterschied.

Christof Seeger-Zurmühlen: Wie stark beeinflusst die Auseinandersetzung mit Communities Deine Arbeit oder was heißt die Auseinandersetzung mit Communities überhaupt?

Florentina Holzinger: Generell kommt meine Inspiration wirklich von allen möglichen künstlerischen Disziplinen, und mein Zugang ist ein sehr interdisziplinärer. Das ist auch wichtig für mich. Und das hängt dann eher zusammen mit dieser Community-Frage. Also ich betone immer, dass das, was ich mache, eigentlich nicht Community-Work ist, weil es Kunst ist, und es soll nicht so einen sozialen Zweck erfüllen. Die Theater- oder Tanzarbeit ist für mich ein Community-Making. Gerade wenn man größere Produktionen schmeißt, da entwirft man dann auch Communities. Und das finde ich gerade auch so interessant, so als utopische Ansätze. Und definitiv ist mir wichtig in dieser Interdisziplinarität, dass ich mit unterschiedlichsten Leuten aus unterschiedlichsten Bereichen, nicht nur Bühnenleuten, Konversationen führe zu bestimmten Themen, die mich gerade interessieren. Wenn ich mit anderen Communities arbeite, dann auf jeden Fall auf der Bühne.

Christof Seeger-Zurmühlen: Du arbeitest mit Profis, die in ihrem Bereich dann die nötige Expertise mitbringen.

Florentina Holzinger: Gerade in Bezug auf den Körper kann man ja viel weiter schauen als eben nur in den tänzerischen Bereich. Da interessiert mich wahrscheinlich viel mehr, was Leute machen, von denen ich noch nicht viel auf der Bühne gesehen habe.

Christof Seeger-Zurmühlen: In der Kultur ist die Einordnung in Sparten ein Thema. Ist es jetzt Tanz oder Performance, ist das Sprechtheater oder ist es dieses und jenes? Damit wirst du doch sicherlich Tag und Nacht konfrontiert. Hat sich da über die Jahre etwas verändert? Ist das etwas offener geworden, nehmen diese Zuschreibungen ab und freust Du Dich, dass es eher um die Frage von Kunst geht und nicht mehr um Zuschreibung? Gibt’s da überhaupt Entwicklungen, wie würdest du das beschreiben?

Florentina Holzinger: Das war natürlich so ein bisschen auch der Joke an diesen Preisen, die ich da letztes Jahr gekriegt habe, diese Theaterpreise oder sogar Regiepreise, weil ich mich selbst nie als Regisseurin gesehen hätte. Aber ich meine, die sind bedeutungsvoll, indem offensichtlich diese Sparten aufbrechen und plötzlich Konversation darüber möglich ist, dass das eben auch Theater sein kann. Die Unterscheidung dieser Sparten interessiert mich gar nicht, auch nicht, mich da in so Labels reinzupassen. Ich meine, es ist wahrscheinlich nur, weil es so vintage ist, dass ich mich gerne dem Tanz zuordne. Ich nehme an, weil Tanz immer mit körperlichem Skill zusammenhängt und ich damit auch gerne spielerisch umgehe. Und weil natürlich für mich der Körper schon dominant ist in der Arbeit, im Gegensatz zum Text oder solchen Sachen, dass der Körper einfach mein Hauptmedium ist. Aber das bedeutet nicht, dass nicht die Tänzerinnen auch eine Stimme haben können.

»Eine Frage von Sprache und Respekt«

»Eine Frage von Sprache und Respekt«

Dr. Bastian Fleermann, Leiter der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf, über die Relevanz des Majdanek-Prozesses für die Stadt. Aufgezeichnet von Christof Seeger-Zurmühlen.
– 25
. Mai 2021

 

»Der Prozess lief in einer Art und Weise ab, wie wir sie uns heute nicht mehr vorstellen können.«

»Inwieweit das Bewusstsein über den Majdanek-Prozess in der Düsseldorfer Stadtbevölkerung heute vorhanden ist, ist eine Generationenfrage. Ich glaube, dass Menschen, die in den 70er-Jahren schon als halbwegs Erwachsene in Düsseldorf gelebt haben, sich grob an den Majdanek-Prozess erinnern. Und ferner glaube ich, dass eine jüngere Generation, die das nicht vermittelt bekommen hat, darüber nichts weiß.

Es gibt eine ganze Reihe von Prozessen, die sehr unbekannt sind. Was wir in der breiten Öffentlichkeit kennen, sind meist nur die Auschwitzprozesse ab 1963 und 1965 in Frankfurt. Aber Majdanek III – also das Düsseldorfer Majdanek-Verfahren – muss man zu den wirklich großen, wichtigen Prozessen in der bundesrepublikanischen Justiz zählen.

Das Lager Majdanek wird häufig auch ›Lager Lublin-Majdanek‹ oder nur ›Lublin‹ genannt. Es war zunächst einmal ein Kriegsgefangenenlager. Aber sehr schnell wurde deutlich, dass hier die Häftlingsgesellschaft sehr bunt zusammengesetzt war. Ab Frühjahr 1942 entstanden im Generalgouvernement drei Vernichtungsstätten – Belzec, Sobibor und Treblinka. Das waren die Lager der sogenannten ›Aktion Reinhardt‹, die der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in diesem Generalgouvernement dienten. Das Interessante ist, dass Majdanek in dieses System nicht integriert wurde. Denn in Majdanek waren immer auch massenhaft nichtjüdische Polen untergebracht, politische Gegner oder solche, die man dafür hielt. Es waren auch sowjetische Kriegsgefangene dort. Es waren Juden dort, aber in den klaren Kontext der ›Aktion Reinhardt‹ lässt sich Majdanek nicht integrieren. Aber: Der große Schlussakt dieses Verbrechenskomplexes ist ein Verbrechen, das eben zu großen Teilen genau in Majdanek stattfand. Das heißt, dass Majdanek in den letzten Tagen dieses Mordprogramms eben doch in den Kontext gezogen wurde, indem bei der zynisch genannten ›Aktion Erntefest‹ 43.000 jüdische Menschen im Großraum Lublin erschossen wurden.

Wir wissen bis heute nicht genau, wie viele Menschen in Majdanek insgesamt zu Tode gekommen bzw. ermordet worden sind. Nach Angaben des heutigen Leiters der Gedenkstätte Majdanek-Lublin, Tomasz Kranz, sind 78.000 Opfer gesichert überliefert.

Sehr früh, nämlich schon in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre, hat sich die polnische Justiz mit den Verbrechen in Majdanek befasst und diese aufgearbeitet. Majdanek I und Majdanek II in Lublin waren Schauprozesse, in denen die SS-Verbrecher abgeurteilt und viele von ihnen erhängt wurden.

Ein Prozess mit 15 Jahren Vorbereitungszeit

Ende November 1975 begann hier in Düsseldorf, im Schwurgerichtssaal des damaligen Landgerichts, der große Prozess ›Majdanek III – Verfahren gegen Hackmann und andere‹. Dieser Prozess begann nicht im luftleeren Raum. Man fing de facto 1960 an, das heißt, es gab eine 15-jährige Vorbereitungsphase vor der Einleitung des Verfahrens. Es wurde recherchiert, es wurden Gutachten eingeholt und es wurden Verdächtige und Zeugen durch die Staatsanwaltschaft Köln vernommen. Es würde ein Mammut-Prozess werden, das war allen Beteiligten klar. Und dass es am Ende der längste Prozess in der Geschichte der Bundesrepublik wurde, mögen manche schon damals geahnt haben.

Der Prozess lief in einer Weise ab, wie wir uns das heute nicht mehr vorstellen können. Es saßen Alt-Nazis im Publikum, die lautstark ihre Solidarität mit den Angeklagten kundgaben. Es gab immer wieder Eklats, Unterbrechungen. Man muss sich vorstellen, dass über 350 Zeugen aus der ganzen Welt nach Düsseldorf eingeladen wurden. Und dass traumatisierte Überlebende, die ihre sämtlichen Familienangehörigen in Majdanek verloren hatten und selbst dort Häftlinge waren, nun angepöbelt wurden von völlig rücksichtslosen Verteidigern. Der größte Skandal allerdings war das, was am Ende herauskam. Die Urteile wurden allgemein als zu milde, zu lasch angesehen. Sie wurden massiv kritisiert in In- und Ausland und von der Presse. Das ernüchternde, ziemlich softe Ergebnis hat man als Skandal empfunden. Das ist es, was wir heute dem Majdanek-Verfahren in Düsseldorf negativ anlasten. Aber wir haben auch die Pflicht, das ist jedenfalls meine Überzeugung, diesem Verfahren in einem Punkt ein gutes Zeugnis auszustellen. Es stellt doch, wie mir scheint, eine extrem gründliche Aufarbeitung des Verbrechenskomplexes dar. Dieser Prozess hat die Aufarbeitung der Verbrechen in Majdanek enorm vorangebracht. Und er hat auch in Düsseldorf viel bewegt.

Warum der Majdanek-Prozess in Düsseldorf stattgefunden hat, ist nur mit einer relativen Banalität zu beantworten. Es gab keine Düsseldorf-Bezüge, jedenfalls keine nennenswerten. Man suchte sich Düsseldorf aus aufgrund der Erfahrung mit dem Treblinka-Prozess von 1965, gegen den Düsseldorfer Kurt Franz und andere. Man darf nicht vergessen, dass der Majdanek-Prozess nicht im Oktober 1975 vorbereitet wurde und im November begonnen hat, sondern man hatte quasi schon während des Treblinka-Verfahrens intensiv am Majdanek-Verfahren gearbeitet. Und das alles hat dann wohl dazu geführt, dass man nach Düsseldorf gegangen ist.

In den Familien wurde noch eisern geschwiegen

Der Majdanek-Prozess wurde fast durchgängig von Protesten begleitet. Viele Zeitzeugen sagen, dass für sie und ihre Familien 1979 die Ausstrahlung der TV-Serie ›Holocaust‹ im WDR ein Schlüsselerlebnis war. Aber Majdanek war zu großen Teilen vor 1979. Das heißt, dass in den Familien zu dieser Zeit noch eisern geschwiegen wurde. Und dieser weltweit beachtete Prozess brachte das Thema Holocaust auf das tagesaktuelle Tableau und die Menschen stellten dann natürlich Fragen. Es gab Proteste von kirchlichen, von gewerkschaftlichen Gruppen, vonseiten der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Es gab Proteste vonseiten der DKP und auch von der ›Post-68er-Generation‹. Es gab Proteste durch die jüdischen Gemeinden. Es gab Proteste, die zum Teil sehr kreativ waren, die mit Mahnwachen hier aufwarteten. Die Mühlenstraße wurde, illegaler Weise, in Majdanekstraße umbenannt.

Günter Bogen, der Vorsitzende Richter, hat Düsseldorfer Jugendliche eingeladen, im hinteren Drittel des Schwurgerichtssaals Platz zu nehmen, um sich den Prozess anzuhören. Auch dafür ist er hart kritisiert worden. Aber er hat das durchgezogen. Und als diese jungen Leute am Abend das Gerichtsgebäude verlassen haben und nach Hause gingen, wussten sie alles über Majdanek, in allen Details. Aber sie wussten nichts über ihre eigene Heimatstadt Düsseldorf und entwickelten den Wunsch, eine lebendige Gedenkstätte in Düsseldorf zu haben. Sie sind zur etablierten Politik gegangen und haben gesagt: Wir fordern eine Gedenkstätte. Die Politik stimmte zu, jedoch gab es da ein Missverständnis, ein Missverständnis der Generationen. Denn eine ›Gedenkstätte‹ war bis dahin eine Tafel, eine Bronze oder eine Figur gewesen. Aber die Generation, der jungen Studierenden, Azubis und Schüler in den 70er- und 80er-Jahren wollte ein solches statisches Verständnis davon, was eine Gedenkstätte zu sein hat, nicht mittragen. Dieses Missverständnis löste sich dann auf, indem diese Jugendlichen sagten: Wir möchten einen aktiven Lernort. Mit wissenschaftlich qualifiziertem Personal und einer Bildungsabteilung, die pädagogisch historisches Lernen ermöglicht. Wir wollen einen Ort, an dem Dauer- und Wechsel- oder Sonderausstellungen stattfinden können. Einen Raum, in dem wir diskutieren können, in dem Begegnungen stattfinden können. Wo man Filme schauen kann, wo man sich auseinandersetzen kann. Aktiv.

Im September 1987 ist unsere Mahn- und Gedenkstätte eröffnet worden und ich möchte behaupten, dass es diesen Impuls ohne den Majdanek-Prozess hier auf der Straße so nicht gegeben hätte. Ich bin davon überzeugt, dass der Majdanek-Prozess der Impuls war, der Düsseldorf quasi dazu gezwungen hat, sich eben nicht nur mit Majdanek oder Auschwitz oder Treblinka, sondern vor allem mit Düsseldorf, mit der Geschichte und Vergangenheit der eigenen Stadt auseinanderzusetzen. Und das war so gesehen auch der Impuls, um eine städtische zentrale Mahn- und Gedenkstätte zu etablieren. Insofern sind das alte Gerichtsgebäude und auch unsere Gedenkstätte miteinander verwoben und verschränkt. Deswegen ist der Prozess, die Erinnerung an den Prozess und die Aufarbeitung für uns auch ein entscheidender Punkt unserer eigenen Instituts-Seele oder Identität.

Ich glaube, dass das vielen Leuten nicht klar ist, dass dieses Institut aus dem Prozess resultiert. Ein Nebenprodukt, aber immerhin. Und ich glaube, dass man auch das nochmal klarmachen kann in der Öffentlichkeit: Dass Majdanek III bei allen Eklats und milden Urteilen auch diese positiven Nebeneffekte hatte und dass wir heute – Jahrzehnte nach dem Prozess – viel mehr über Majdanek wissen als zuvor.

Natürlich ist unsere Arbeit heute nicht mehr mit der in den 80er-Jahren vergleichbar, weil sich das Haus enorm weiterentwickelt. Aber in diesem Haus gibt es Grundprinzipien, die genau in dieser Zeit, Mitte der 80er-Jahre, hier definiert wurden und die wir so weiterverfolgen. Relativ stur. Wir sind kein Schweige-Mausoleum, sondern ein aktiver Ort, an dem Stadtgeschichte diskutiert wird. Wir bieten Bildungsarbeit und Forschung zugleich an, das sind Konstanten, die wir hier nie verlassen haben. Übrigens auch fest verankert ist die Grundüberzeugung, dass dieses Haus niemals eine Holocaust-Gedenkstätte war und auch kein jüdisches Museum, sondern wir immer allen Opfergruppen gleichermaßen gewidmet waren und sind. Wir haben in der Dauerausstellung immer den Anspruch, alle verfolgten Gruppen im Blick zu haben. Auch die kleinen, auch die marginalisierten Opfergruppen wie beispielsweise die Zeugen Jehovas oder schwule Männer. Wir wählen einen sehr stark biografischen Ansatz. Wir gehen sehr konkret in die Geschichte hinein. Wir wollen nicht abstrakt sein. Wir wollen auf Düsseldorf begrenzt sein, um schärfer und genauer hinzugucken.

Im Juni 2021 erinnerten wir nun gemeinsam mit dem asphalt Festival an den Majdanek-Prozess. Auf künstlerische Weise, auf dokumentarischem Weg, durch eine gemeinsame Haltung. Wir erinnerten an die Protestkultur und im weitesten Sinne erinnerten wir auch an die Opfer von Majdanek.

Wenn man spezifischer hinguckt, würde ich folgendes sagen: Die Aneinanderreihung von Eklats und unschönen Szenen im Gerichtssaal damals hatte ganz viel mit Sprache zu tun. Im Majdanek-Prozess hat sich ein Tonfall Bahn gebrochen, der sehr aufgeregt und aggressiv war. Wie man mit Zeitzeugen, mit Augenzeugen, mit Überlebenden umgegangen ist, ist eine Frage von Sprache und von Respekt. Das sind eigentlich die beiden Schlüsselbegriffe. Wenn wir uns nochmal diesen sehr speziellen Aspekt des Verfahrens anschauen, diese Gesamtstimmung, diese Atmosphäre, die durch Sprache konstituiert wird, dann können wir heute daraus lernen: Sprache ist immer auch ein ganz wichtiges Instrument, um Unrecht zu tun oder um Gewalt anzutun.«

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Dr. Bastian Fleermann (*1978) ist promovierter Historiker. Er wurde in Ratingen geboren und hat in Bonn Geschichte, Volkskunde und Rheinische Landeskunde studiert. Seit 2011 leitet er die Mahn- und Gedenkstätte der Stadt Düsseldorf auf der Mühlenstraße 29.
Die Inszenierung ›IM PROCESS‹ des Theaterkollektivs Pièrre.Vers über den Majdanek-Prozess feierte am 30.06.2021 im Rahmen des asphalt Festivals ihre Uraufführung in der Berger Kirche in der Altstadt.

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